Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.falls behielten, außer dem Behorchen hat er die Briefe, welche auf das Theater Leicht wird es dem Kritiker der Gegenwart, etwas an Moliöre zu vermis¬ falls behielten, außer dem Behorchen hat er die Briefe, welche auf das Theater Leicht wird es dem Kritiker der Gegenwart, etwas an Moliöre zu vermis¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283497"/> <p xml:id="ID_429" prev="#ID_428"> falls behielten, außer dem Behorchen hat er die Briefe, welche auf das Theater<lb/> geschickt werden, den Usus ex in-retina, der aus der letzten Noth hilft, und ähn¬<lb/> liches. Aber auch im Gebrauch dieser Mittel wird er immer mäßiger, gewählter,<lb/> und es wäre Aufgabe einer eingehenden Würdigung, diese allmälige Befreiung<lb/> von der Tradition bei ihm nachzuweisen, wobei man freilich nicht vergessen darf,<lb/> daß er, der im Drange des Tages arbeitete, zuweilen auch in der letzten Zeit<lb/> zu den hergebrachten Formen zurückgriff.</p><lb/> <p xml:id="ID_430" next="#ID_431"> Leicht wird es dem Kritiker der Gegenwart, etwas an Moliöre zu vermis¬<lb/> sen. Wer den Zeitgenossen und Kameraden Corneilles mit dem Spanier Cal-<lb/> deron vergleicht, der wird den größern Reichthum des Gemüthes an dem Fran¬<lb/> zosen .bewundern, wer ihn neben Shakespeare hält, der muß in ihm etwas<lb/> Fremdartiges empfinden und, ganz abgesehen von der Jntensivität und dem<lb/> Umfang der dramatischen Kraft, auch eine weit andere und einseitigere BeHand<lb/> lung der Charaktere. Uns möchte oft auch in den besten Stücken Moliöres<lb/> bedünken, als fehle seinen Personen etwas zu dem schönen Schein ganzer Mer-.<lb/> schen. Das liegt zunächst in seiner Methode zu gestalten und in den Traditionen sei¬<lb/> ner Kunst. Aus den Masken hatte er mit übermüthiger Laune lustige Caricaturen,<lb/> aus den Caricaturen endlich vertiefte Charaktere geschaffen. Aber auch an der Komö¬<lb/> die höheren Stils, welche er den Franzosen und uns Modernen erwarb, blieb noch<lb/> in einzelnen Stellen etwas von Heu seelenlosen 'der alten Maskenbilder hän-<lb/> gen. Nie leidet er an der Schwäche schlechter Dichter, in einem burlesken<lb/> Moment den Charakter seiner Helden zu opfern, aber in den Linien der Cha¬<lb/> raktere selbst ist bei aller Feinheit der Ausführung doch eine gewisse Armuth<lb/> sichtbar. Sie reprcisentiren eine Tendenz und sind nur dazu da, um diese zur<lb/> Geltung zu bringen. Sie sind in seiner besten Zeit nie Chargen, und wenn<lb/> sie hier und da uns so erscheinen, die wir Ecken und Wunderlichkeiten stumpf<lb/> abgeschliffen haben, so waren ihre Lebensäußerungen doch in der Zeit des<lb/> Dichters zuverlässig wahr. Aber sie sind hart und einförmig. Wenn im Tar-<lb/> tüffe der ehrliche Orgon immer wieder sagt und zu erkennen giebt, daß ihm<lb/> Weib und Kind nichts gelte gegen seinen Tartüffe, so ist solcher Ausdruck sei¬<lb/> ner Befangenheit für unsere Empfindung nicht mehr ganz wahr. In der That<lb/> ist Orgon nicht ganz so herzlos geworden, als er sich stellt, denn obgleich er<lb/> im Zorn seinen Sohn aus dem Hause scheucht, weil dieser den Freund ver¬<lb/> leumdet, so ist doch seiner Tochter gegenüber sehr wohl das Vaterherz mar-<lb/> kirt, und es ist nicht blos der gekränkte Freund, sondern auch der geängstigte<lb/> Ehemann, welcher unter den Tisch seiner Frau kriecht, um zu lauschen.<lb/> Der Dichter empfindet das Wesen des Orgon ganz richtig, aber ihm liegt<lb/> nichts daran, ihn unserm Gefühl vertraulich nahe zu stellen. Er ist ihm für<lb/> das Stück nichts als der kopflose Düpirte, und nur diese Seite seines Wesens<lb/> hat für ihn eine Bedeutung. Schwerlich hätte ein Dichter germanischer Natur</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0144]
falls behielten, außer dem Behorchen hat er die Briefe, welche auf das Theater
geschickt werden, den Usus ex in-retina, der aus der letzten Noth hilft, und ähn¬
liches. Aber auch im Gebrauch dieser Mittel wird er immer mäßiger, gewählter,
und es wäre Aufgabe einer eingehenden Würdigung, diese allmälige Befreiung
von der Tradition bei ihm nachzuweisen, wobei man freilich nicht vergessen darf,
daß er, der im Drange des Tages arbeitete, zuweilen auch in der letzten Zeit
zu den hergebrachten Formen zurückgriff.
Leicht wird es dem Kritiker der Gegenwart, etwas an Moliöre zu vermis¬
sen. Wer den Zeitgenossen und Kameraden Corneilles mit dem Spanier Cal-
deron vergleicht, der wird den größern Reichthum des Gemüthes an dem Fran¬
zosen .bewundern, wer ihn neben Shakespeare hält, der muß in ihm etwas
Fremdartiges empfinden und, ganz abgesehen von der Jntensivität und dem
Umfang der dramatischen Kraft, auch eine weit andere und einseitigere BeHand
lung der Charaktere. Uns möchte oft auch in den besten Stücken Moliöres
bedünken, als fehle seinen Personen etwas zu dem schönen Schein ganzer Mer-.
schen. Das liegt zunächst in seiner Methode zu gestalten und in den Traditionen sei¬
ner Kunst. Aus den Masken hatte er mit übermüthiger Laune lustige Caricaturen,
aus den Caricaturen endlich vertiefte Charaktere geschaffen. Aber auch an der Komö¬
die höheren Stils, welche er den Franzosen und uns Modernen erwarb, blieb noch
in einzelnen Stellen etwas von Heu seelenlosen 'der alten Maskenbilder hän-
gen. Nie leidet er an der Schwäche schlechter Dichter, in einem burlesken
Moment den Charakter seiner Helden zu opfern, aber in den Linien der Cha¬
raktere selbst ist bei aller Feinheit der Ausführung doch eine gewisse Armuth
sichtbar. Sie reprcisentiren eine Tendenz und sind nur dazu da, um diese zur
Geltung zu bringen. Sie sind in seiner besten Zeit nie Chargen, und wenn
sie hier und da uns so erscheinen, die wir Ecken und Wunderlichkeiten stumpf
abgeschliffen haben, so waren ihre Lebensäußerungen doch in der Zeit des
Dichters zuverlässig wahr. Aber sie sind hart und einförmig. Wenn im Tar-
tüffe der ehrliche Orgon immer wieder sagt und zu erkennen giebt, daß ihm
Weib und Kind nichts gelte gegen seinen Tartüffe, so ist solcher Ausdruck sei¬
ner Befangenheit für unsere Empfindung nicht mehr ganz wahr. In der That
ist Orgon nicht ganz so herzlos geworden, als er sich stellt, denn obgleich er
im Zorn seinen Sohn aus dem Hause scheucht, weil dieser den Freund ver¬
leumdet, so ist doch seiner Tochter gegenüber sehr wohl das Vaterherz mar-
kirt, und es ist nicht blos der gekränkte Freund, sondern auch der geängstigte
Ehemann, welcher unter den Tisch seiner Frau kriecht, um zu lauschen.
Der Dichter empfindet das Wesen des Orgon ganz richtig, aber ihm liegt
nichts daran, ihn unserm Gefühl vertraulich nahe zu stellen. Er ist ihm für
das Stück nichts als der kopflose Düpirte, und nur diese Seite seines Wesens
hat für ihn eine Bedeutung. Schwerlich hätte ein Dichter germanischer Natur
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