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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Gelegenheit, seine Mimik zu verwerthen, er wird bei guter Aufführung ein
Moment von sehr komischer Wirkung. Und diese Wirkung ist keine unnütze
Beigabe, sondern sie ist zu gleicher Zeit höchst zweckvoll, weil sie dem Publikum
genau die gehobene Heiterkeit und Erwartung giebt, welche für die Lectüre des
folgenden Gedichtes nothwendig ist. Nicht weniger schön ist die Weise, in
welcher die Erbärmlichkeit des recitirten Gedichtes durch die entzückte Bewegung der
Hörerinnen, die begeisterte Wiederholung der schlechtesten Stellen bemerkbar gemacht
wird, und ganz meisterhaft sind die Variationen dieser Wirkung, welche nach
den einzelnen Versen des Gedichtes eintreten. Was hier Moliere gewagt hat,
wäre wenig Andern gelungen, das Vorlesen von Versen, und die Kritik
derselben mit dem reichsten dramatischen Leben zu erfüllen. Da die Scenen, in
denen Sonette gelesen werden, hier bereits gelobt sind, möge der Leser auch der
entsprechenden Scene im Misanthrop einige Aufmerksamkeit zuwenden. Sie steht
am Schluß des ersten Actes, Alceste hat in der einleitenden Scene gegen den
Freund Philinte seinen Charakter explicire, die Falschheit, Lüge, Heuchelei der
Welt hat sein edles und reizbares Gemüth wund gemacht, er kann sich in die
Menschen nicht finden, auch die gewöhnlichen Höflichkeiten des Verkehrs sind
ihm unerträglich, so oft sie unwahr sind. Die nächste Scene, das Finale des
einleitenden Actes, hat den Zweck, zu zeigen, wie er sich durch diese Gemüths¬
art einen sonst wackern Mann zum Feinde macht, weil er aus Wahrheitsliebe
die Eitelkeit desselben tödtlich verletzt. Es naht ein Cavalier Orville, und
bittet den Alceste mit allen Phrasen der damaligen Hofsprache um seine
Freundschaft. Alceste sträubt sich in stolzer Bescheidenheit gegen die lobenden
Reden. Orville läßt ihn im Fluß seiner Phrasen nicht zu Worte kommen,
die Ablehnung Ältestes besteht nur in viermaligem Ansatz der Worte: mein
Herr. Er wird jedesmal durch ein neues Lob unterbrochen. Der Schau¬
spieler des Alceste hat also viermal denselben Anfang unterbrochener Rede zu
nüanciren. Nach solch schnellem Aufwärtssteigen in flüchtiger Rede schließt
Alceste diesen Eingang der Scene kräftig ab, indem er mit gehaltenen Wor¬
ten für die Ehre dankt und dem Andern bemerklich macht, daß erst nähere
Bekanntschaft vorausgehen müsse, damit keiner von ihnen den schnellen Bund
zu bereuen habe. Orville, durch die feste Würde wenigstens nicht empfindlich
verletzt, beruhigt sich mit der Aussicht auf Freundschaft, bietet unterdeß seine
Dienste an und geht zum Hauptinhalt der Scene über, indem er von dem
feinfühlenden Sinne des Andern, zugleich um sein Vertrauen zu zeigen,
das Urtheil über ein Sonett erbittet. Alceste deprccirt wegen seiner unvermeid¬
lichen Aufrichtigkeit, das aber gerade ist es, was der Andere will, Orville
beginnt vorzulesen. Auch hier wird die heitere und gehobene Stimmung des
Publikums, welche dem geduldigen Anhören eines Gedichtes als spannendes
Moment vorausgehen muß, sehr zierlich dadurch erreicht, daß Orville sich immer


Grenzboten III. 186S. 17

Gelegenheit, seine Mimik zu verwerthen, er wird bei guter Aufführung ein
Moment von sehr komischer Wirkung. Und diese Wirkung ist keine unnütze
Beigabe, sondern sie ist zu gleicher Zeit höchst zweckvoll, weil sie dem Publikum
genau die gehobene Heiterkeit und Erwartung giebt, welche für die Lectüre des
folgenden Gedichtes nothwendig ist. Nicht weniger schön ist die Weise, in
welcher die Erbärmlichkeit des recitirten Gedichtes durch die entzückte Bewegung der
Hörerinnen, die begeisterte Wiederholung der schlechtesten Stellen bemerkbar gemacht
wird, und ganz meisterhaft sind die Variationen dieser Wirkung, welche nach
den einzelnen Versen des Gedichtes eintreten. Was hier Moliere gewagt hat,
wäre wenig Andern gelungen, das Vorlesen von Versen, und die Kritik
derselben mit dem reichsten dramatischen Leben zu erfüllen. Da die Scenen, in
denen Sonette gelesen werden, hier bereits gelobt sind, möge der Leser auch der
entsprechenden Scene im Misanthrop einige Aufmerksamkeit zuwenden. Sie steht
am Schluß des ersten Actes, Alceste hat in der einleitenden Scene gegen den
Freund Philinte seinen Charakter explicire, die Falschheit, Lüge, Heuchelei der
Welt hat sein edles und reizbares Gemüth wund gemacht, er kann sich in die
Menschen nicht finden, auch die gewöhnlichen Höflichkeiten des Verkehrs sind
ihm unerträglich, so oft sie unwahr sind. Die nächste Scene, das Finale des
einleitenden Actes, hat den Zweck, zu zeigen, wie er sich durch diese Gemüths¬
art einen sonst wackern Mann zum Feinde macht, weil er aus Wahrheitsliebe
die Eitelkeit desselben tödtlich verletzt. Es naht ein Cavalier Orville, und
bittet den Alceste mit allen Phrasen der damaligen Hofsprache um seine
Freundschaft. Alceste sträubt sich in stolzer Bescheidenheit gegen die lobenden
Reden. Orville läßt ihn im Fluß seiner Phrasen nicht zu Worte kommen,
die Ablehnung Ältestes besteht nur in viermaligem Ansatz der Worte: mein
Herr. Er wird jedesmal durch ein neues Lob unterbrochen. Der Schau¬
spieler des Alceste hat also viermal denselben Anfang unterbrochener Rede zu
nüanciren. Nach solch schnellem Aufwärtssteigen in flüchtiger Rede schließt
Alceste diesen Eingang der Scene kräftig ab, indem er mit gehaltenen Wor¬
ten für die Ehre dankt und dem Andern bemerklich macht, daß erst nähere
Bekanntschaft vorausgehen müsse, damit keiner von ihnen den schnellen Bund
zu bereuen habe. Orville, durch die feste Würde wenigstens nicht empfindlich
verletzt, beruhigt sich mit der Aussicht auf Freundschaft, bietet unterdeß seine
Dienste an und geht zum Hauptinhalt der Scene über, indem er von dem
feinfühlenden Sinne des Andern, zugleich um sein Vertrauen zu zeigen,
das Urtheil über ein Sonett erbittet. Alceste deprccirt wegen seiner unvermeid¬
lichen Aufrichtigkeit, das aber gerade ist es, was der Andere will, Orville
beginnt vorzulesen. Auch hier wird die heitere und gehobene Stimmung des
Publikums, welche dem geduldigen Anhören eines Gedichtes als spannendes
Moment vorausgehen muß, sehr zierlich dadurch erreicht, daß Orville sich immer


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[0141] Gelegenheit, seine Mimik zu verwerthen, er wird bei guter Aufführung ein Moment von sehr komischer Wirkung. Und diese Wirkung ist keine unnütze Beigabe, sondern sie ist zu gleicher Zeit höchst zweckvoll, weil sie dem Publikum genau die gehobene Heiterkeit und Erwartung giebt, welche für die Lectüre des folgenden Gedichtes nothwendig ist. Nicht weniger schön ist die Weise, in welcher die Erbärmlichkeit des recitirten Gedichtes durch die entzückte Bewegung der Hörerinnen, die begeisterte Wiederholung der schlechtesten Stellen bemerkbar gemacht wird, und ganz meisterhaft sind die Variationen dieser Wirkung, welche nach den einzelnen Versen des Gedichtes eintreten. Was hier Moliere gewagt hat, wäre wenig Andern gelungen, das Vorlesen von Versen, und die Kritik derselben mit dem reichsten dramatischen Leben zu erfüllen. Da die Scenen, in denen Sonette gelesen werden, hier bereits gelobt sind, möge der Leser auch der entsprechenden Scene im Misanthrop einige Aufmerksamkeit zuwenden. Sie steht am Schluß des ersten Actes, Alceste hat in der einleitenden Scene gegen den Freund Philinte seinen Charakter explicire, die Falschheit, Lüge, Heuchelei der Welt hat sein edles und reizbares Gemüth wund gemacht, er kann sich in die Menschen nicht finden, auch die gewöhnlichen Höflichkeiten des Verkehrs sind ihm unerträglich, so oft sie unwahr sind. Die nächste Scene, das Finale des einleitenden Actes, hat den Zweck, zu zeigen, wie er sich durch diese Gemüths¬ art einen sonst wackern Mann zum Feinde macht, weil er aus Wahrheitsliebe die Eitelkeit desselben tödtlich verletzt. Es naht ein Cavalier Orville, und bittet den Alceste mit allen Phrasen der damaligen Hofsprache um seine Freundschaft. Alceste sträubt sich in stolzer Bescheidenheit gegen die lobenden Reden. Orville läßt ihn im Fluß seiner Phrasen nicht zu Worte kommen, die Ablehnung Ältestes besteht nur in viermaligem Ansatz der Worte: mein Herr. Er wird jedesmal durch ein neues Lob unterbrochen. Der Schau¬ spieler des Alceste hat also viermal denselben Anfang unterbrochener Rede zu nüanciren. Nach solch schnellem Aufwärtssteigen in flüchtiger Rede schließt Alceste diesen Eingang der Scene kräftig ab, indem er mit gehaltenen Wor¬ ten für die Ehre dankt und dem Andern bemerklich macht, daß erst nähere Bekanntschaft vorausgehen müsse, damit keiner von ihnen den schnellen Bund zu bereuen habe. Orville, durch die feste Würde wenigstens nicht empfindlich verletzt, beruhigt sich mit der Aussicht auf Freundschaft, bietet unterdeß seine Dienste an und geht zum Hauptinhalt der Scene über, indem er von dem feinfühlenden Sinne des Andern, zugleich um sein Vertrauen zu zeigen, das Urtheil über ein Sonett erbittet. Alceste deprccirt wegen seiner unvermeid¬ lichen Aufrichtigkeit, das aber gerade ist es, was der Andere will, Orville beginnt vorzulesen. Auch hier wird die heitere und gehobene Stimmung des Publikums, welche dem geduldigen Anhören eines Gedichtes als spannendes Moment vorausgehen muß, sehr zierlich dadurch erreicht, daß Orville sich immer Grenzboten III. 186S. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/141>, abgerufen am 15.01.2025.