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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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stellt, noch den Geizigen und den Bürger, der Edelmann sein will, fügen möge;
beide gehören zu den bekannten, welche auch unsere Bühne vielfach beeinflußt haben.
Hauptsache auch für uns bleiben freilich die Stücke der höheren Komödie in Versen.
Es war den vorigen November zweihundert Jahre, daß Tartüffe das erste
Mal vollständig im Schloß des Prinzen Conde verstohlen aufgeführt wurde;
es sind mehr als hundert Jahre, daß Gellert die Betschwester nach dem Muster
des Tartüffe schrieb. Welche unserer Bühnen hat in einer Zeit, wo man so
bereit ist, Erinnerungstage zu feiern, an die Wiederaufnahme des Stückes ge¬
dacht? Haben unsere Intendanzen vielleicht noch immer Grund, das Stück mit den¬
selben Augen anzusehen, mit denen es Napoleon der Erste betrachtete? Das Lustspiel
steht zwar noch im Repertoir der meisten älteren Charakterspieler, es wäre aber
wohl eine Festtagsaufgabe, die alte unbehilfliche Bearbeitung des wackeren
Hamburgers Schmidt bei Seite zu werfen und das Stück im Costüm seines
Jahres nach der neuen Uebersetzung auf die Bühne zu bringen. Wenn man
aber Stücke von Moliöre wieder auf die Bretter trägt, soll man nicht außer
Acht lassen, daß für ihre Aufführung eine sorgfältigere Behandlung des Dialogs
unumgänglich nöthig ist, als wir Deutsche in der Regel durchsetzen. Die
Tempi der Reden und Gegenreden haben bei Moliöre häufigen Wechsel,
und es gehört Bildung und Energie des Regisseurs dazu, diese Tempi
unsern Schauspielern, welche zu wenig daran gewöhnt sind, beizubringen.
Ferner aber ist zu beachten, daß seine Stücke im Ganzen betrachtet weit
schneller abrollen müssen als unsere modernen Lustspiele. Coulisscnwechsel
im Act ist durchaus unstatthaft, zwischen den einzelnen Acten dürfen nicht mehr als
eine bis höchstens drei Minuten vergehen, die Gardine darf auch in den Zwischen¬
acten nur dann fallen, wenn ein Coulissenwcchsel unumgänglich nöthig wird.
Wir sind, seit wir die unselige Erfindung gemacht haben, bei jedem Scenen¬
wechsel die Gardine herunterzulassen, in eine so geschmacklose Abhängigkeit
von der Staffage und den Möbeln der Stücke gekommen, daß auf den meisten
Bühnen die künstlerische Gliederung der Dramen verloren ist. Wer Stücke
Moliöres aufführt wie unsere Dramen, wird schwerlich Freude davon haben.

Noch ruht unser neues Lustspiel auf Moliöre, die Fortschritte, welche wir
seitdem durchgesetzt, sind durch kleine und große Talente, nicht durch eine geniale
Kraft gemacht worden, zumeist bei den Franzosen, weniger glänzend bei den
Völkern germanischen Stammes, sie sind im Grunde nur von mäßigem Werth.
Noch immer wirkt die Größe Moliöres auf unsre Schaffenden, welche seinen
Erwerb allerdings meist aus zweiter und dritter Hand für sich gewinnen, aber
es ist geschehen, daß reichlicher auf uns übergegangen ist, worin die Eigen¬
thümlichkeit seiner Zeit und seine Vorgänger ihn beschränkten, als worin er
auch für alle Zeit groß sein wird. Conventionelle Annahmen seiner Bühne, die
Flüchtigkeit im Motiviren, die Erinnerung an die römischen Masken in den


stellt, noch den Geizigen und den Bürger, der Edelmann sein will, fügen möge;
beide gehören zu den bekannten, welche auch unsere Bühne vielfach beeinflußt haben.
Hauptsache auch für uns bleiben freilich die Stücke der höheren Komödie in Versen.
Es war den vorigen November zweihundert Jahre, daß Tartüffe das erste
Mal vollständig im Schloß des Prinzen Conde verstohlen aufgeführt wurde;
es sind mehr als hundert Jahre, daß Gellert die Betschwester nach dem Muster
des Tartüffe schrieb. Welche unserer Bühnen hat in einer Zeit, wo man so
bereit ist, Erinnerungstage zu feiern, an die Wiederaufnahme des Stückes ge¬
dacht? Haben unsere Intendanzen vielleicht noch immer Grund, das Stück mit den¬
selben Augen anzusehen, mit denen es Napoleon der Erste betrachtete? Das Lustspiel
steht zwar noch im Repertoir der meisten älteren Charakterspieler, es wäre aber
wohl eine Festtagsaufgabe, die alte unbehilfliche Bearbeitung des wackeren
Hamburgers Schmidt bei Seite zu werfen und das Stück im Costüm seines
Jahres nach der neuen Uebersetzung auf die Bühne zu bringen. Wenn man
aber Stücke von Moliöre wieder auf die Bretter trägt, soll man nicht außer
Acht lassen, daß für ihre Aufführung eine sorgfältigere Behandlung des Dialogs
unumgänglich nöthig ist, als wir Deutsche in der Regel durchsetzen. Die
Tempi der Reden und Gegenreden haben bei Moliöre häufigen Wechsel,
und es gehört Bildung und Energie des Regisseurs dazu, diese Tempi
unsern Schauspielern, welche zu wenig daran gewöhnt sind, beizubringen.
Ferner aber ist zu beachten, daß seine Stücke im Ganzen betrachtet weit
schneller abrollen müssen als unsere modernen Lustspiele. Coulisscnwechsel
im Act ist durchaus unstatthaft, zwischen den einzelnen Acten dürfen nicht mehr als
eine bis höchstens drei Minuten vergehen, die Gardine darf auch in den Zwischen¬
acten nur dann fallen, wenn ein Coulissenwcchsel unumgänglich nöthig wird.
Wir sind, seit wir die unselige Erfindung gemacht haben, bei jedem Scenen¬
wechsel die Gardine herunterzulassen, in eine so geschmacklose Abhängigkeit
von der Staffage und den Möbeln der Stücke gekommen, daß auf den meisten
Bühnen die künstlerische Gliederung der Dramen verloren ist. Wer Stücke
Moliöres aufführt wie unsere Dramen, wird schwerlich Freude davon haben.

Noch ruht unser neues Lustspiel auf Moliöre, die Fortschritte, welche wir
seitdem durchgesetzt, sind durch kleine und große Talente, nicht durch eine geniale
Kraft gemacht worden, zumeist bei den Franzosen, weniger glänzend bei den
Völkern germanischen Stammes, sie sind im Grunde nur von mäßigem Werth.
Noch immer wirkt die Größe Moliöres auf unsre Schaffenden, welche seinen
Erwerb allerdings meist aus zweiter und dritter Hand für sich gewinnen, aber
es ist geschehen, daß reichlicher auf uns übergegangen ist, worin die Eigen¬
thümlichkeit seiner Zeit und seine Vorgänger ihn beschränkten, als worin er
auch für alle Zeit groß sein wird. Conventionelle Annahmen seiner Bühne, die
Flüchtigkeit im Motiviren, die Erinnerung an die römischen Masken in den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/136>, abgerufen am 15.01.2025.