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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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liegenden Fragen amtlich zu äußern. Eben diese umfassende Auslegung des
Art. 84 folgt daraus, daß sein Zweck, die Sicherung der Unabhängigkeit der
Abgeordneten, sich auf alle "ihre amtlichen Reden" erstrecken soll! Ausdrücklich
verwirft das Obertribunal die gegnerische Scheidung zwischen "Meinungen" und
"Aeußerungen", ausdrücklich setzt es den Zweck dieser nothwendigen Vorschrift
des Art. 84 darin, die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten
bei ihren amtlichen Reden zu sichern.

Die parteilose Prüfung im Felde der allgemeinen Theorie und der be¬
sondern preußischen Praxis des Repräsentativ-Verfassungsrechtes ist damit be¬
endet. Sie ergiebt das Resultat, daß das beabsichtigte Vorgehen der Staats¬
regierung den Art. 84 der Verfassung verletzt; denn die Regierung fordert Be¬
amte auf, Abgeordnete wegen ihrer straffälligen Reden anzuklagen und zu richten,
während beides der citirte Artikel der Verfassung verbietet.

Der Abgeordnete Ziegler in seiner unvergeßlichen Rede ist wieder ge¬
rechtfertigt, uns begegnet täglich in unserem Verfassungsleben so Ungeheures,
so Unnatürliches, daß wir den Maßstab desselben verlieren. Das Herrenhaus,
die eine Hälfte der Kammer, will die Redefreiheit der andern Hälfte beschränkt
wissen. Ganz abgesehen von der parlamentarischen Unnatur solches Schrittes
ist er vor allem ein Schlag gegen die Verfassung, gegen die unveräußerliche
Grundlage des Herrenhauses selbst und unseres ganzen Staatslebens. Und
eben dieses Herrenhaus verletzt fast in jeder seiner seltenen Sitzungen die
Rechte Dritter durch seine Reden und sündigt so gegen seine eigene Moral und
verletzt so seinen eigenen Rechtssatz. Wie oft nannten Mitglieder und Vorsitzende
des Herrenhauses die streng verfassungsmäßigen Schritte des andern Hauses mit
den verleumdungsrcichsten Namen, .ihnen sind die Mitglieder der Majorität des
Volkshauses Gottes- und Königslästerer, Eidbrüchige und Hochverräther. In
der Sitzung selbst, in welcher diese Herrenhäusler der UnVerantwortlichkeit, der
Redefreiheit des Abgeordnetenhauses Fesseln anlegen wollen, werfen sie, die
Gerechten, Beschuldigungen dem andern Hause ins Gesicht, daß ihre eben ge¬
schmiedeten Redefesseln vor allem ihnen erst angelegt werden müßten, v. Below
ruft: "Die Kritik der Abgeordneten vernichtet die Autoritäten, ohne welche kein
Staat existiren kann"; "die Redefreiheit der Abgeordneten giebt den König, seine
Diener und die Gerichte des Landes der Verachtung Preis"; "der Präsident
des Abgeordnetenhauses ist parteiisch". Der Freiherr von Senfft-Pilsach be¬
schimpft die jüdischen Zeitungsliteraten, was gar nicht zum Gegenstande der
Debatte gehört, er nennt den Vorwurf des Vcrfassungsbruchs, welchen die
Abgeordneten gegen die "treuesten" Minister aussprechen, "schamlose Lüge und Ver¬
leumdung". Die Aeußerung Greises vom Kainszeichen des Eidbruches bezeichnet
er als "schamlose, scheußliche Angriffe, Nichtswürdigkeiten, Niederträchtigkeiten; wenn
die Verfassung diese stützt, ist sie nichts werth, nicht zu schützen, nicht zu halten."


liegenden Fragen amtlich zu äußern. Eben diese umfassende Auslegung des
Art. 84 folgt daraus, daß sein Zweck, die Sicherung der Unabhängigkeit der
Abgeordneten, sich auf alle „ihre amtlichen Reden" erstrecken soll! Ausdrücklich
verwirft das Obertribunal die gegnerische Scheidung zwischen „Meinungen" und
„Aeußerungen", ausdrücklich setzt es den Zweck dieser nothwendigen Vorschrift
des Art. 84 darin, die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten
bei ihren amtlichen Reden zu sichern.

Die parteilose Prüfung im Felde der allgemeinen Theorie und der be¬
sondern preußischen Praxis des Repräsentativ-Verfassungsrechtes ist damit be¬
endet. Sie ergiebt das Resultat, daß das beabsichtigte Vorgehen der Staats¬
regierung den Art. 84 der Verfassung verletzt; denn die Regierung fordert Be¬
amte auf, Abgeordnete wegen ihrer straffälligen Reden anzuklagen und zu richten,
während beides der citirte Artikel der Verfassung verbietet.

Der Abgeordnete Ziegler in seiner unvergeßlichen Rede ist wieder ge¬
rechtfertigt, uns begegnet täglich in unserem Verfassungsleben so Ungeheures,
so Unnatürliches, daß wir den Maßstab desselben verlieren. Das Herrenhaus,
die eine Hälfte der Kammer, will die Redefreiheit der andern Hälfte beschränkt
wissen. Ganz abgesehen von der parlamentarischen Unnatur solches Schrittes
ist er vor allem ein Schlag gegen die Verfassung, gegen die unveräußerliche
Grundlage des Herrenhauses selbst und unseres ganzen Staatslebens. Und
eben dieses Herrenhaus verletzt fast in jeder seiner seltenen Sitzungen die
Rechte Dritter durch seine Reden und sündigt so gegen seine eigene Moral und
verletzt so seinen eigenen Rechtssatz. Wie oft nannten Mitglieder und Vorsitzende
des Herrenhauses die streng verfassungsmäßigen Schritte des andern Hauses mit
den verleumdungsrcichsten Namen, .ihnen sind die Mitglieder der Majorität des
Volkshauses Gottes- und Königslästerer, Eidbrüchige und Hochverräther. In
der Sitzung selbst, in welcher diese Herrenhäusler der UnVerantwortlichkeit, der
Redefreiheit des Abgeordnetenhauses Fesseln anlegen wollen, werfen sie, die
Gerechten, Beschuldigungen dem andern Hause ins Gesicht, daß ihre eben ge¬
schmiedeten Redefesseln vor allem ihnen erst angelegt werden müßten, v. Below
ruft: „Die Kritik der Abgeordneten vernichtet die Autoritäten, ohne welche kein
Staat existiren kann"; „die Redefreiheit der Abgeordneten giebt den König, seine
Diener und die Gerichte des Landes der Verachtung Preis"; „der Präsident
des Abgeordnetenhauses ist parteiisch". Der Freiherr von Senfft-Pilsach be¬
schimpft die jüdischen Zeitungsliteraten, was gar nicht zum Gegenstande der
Debatte gehört, er nennt den Vorwurf des Vcrfassungsbruchs, welchen die
Abgeordneten gegen die „treuesten" Minister aussprechen, „schamlose Lüge und Ver¬
leumdung". Die Aeußerung Greises vom Kainszeichen des Eidbruches bezeichnet
er als „schamlose, scheußliche Angriffe, Nichtswürdigkeiten, Niederträchtigkeiten; wenn
die Verfassung diese stützt, ist sie nichts werth, nicht zu schützen, nicht zu halten."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/118>, abgerufen am 15.01.2025.