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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Interesse und jede Meinungsschattirung, selbst leidenschaftlich, verhandeln kann"
u. s. w. (a. a. O. S. 69).

Andere Staatsrechtslehrer dagegen wollen die Redefreiheit der Volksver¬
treter nicht in obiger Ausdehnung, sondern nur soweit gewahrt wissen, als
dieselbe nicht die Rechte Dritter verletzt. H. A. Zcichariä in Göttingen sagt:
"Die Stände sind hinsichtlich ihrer Meinungsäußerung und Beschlußfassung in
ihrer Sphäre durchaus frei und unabhängig von der Regierung, und in dieser
Beziehung weder nach oben, noch nach unten verantwortlich. Ein Verbrechen
können die Stände als ganzes Corpus so wenig, wie eine andre Corporation
begehn. Ueberschreiten sie aber ihre gesetzliche Sphäre, so sind die Einzelnen,
ebenso wie wenn sie außerhalb der ständischen Thätigkeit, wenn auch bezüglich
auf dieselbe delinquiren. nach den bestehenden Gesetzen zu beurtheilen. Auch
läßt sich ohne eine positiv rechtliche, in neueren Verfassungen sich freilich zur
Sicherung der Freiheit und Unverletzlichkeit der Stände häufig findende Be¬
stimmung, nicht annehmen, daß Mitglieder der Ständeversammlungen resp, stän¬
discher Ausschüsse, wegen ihrer in der Versammlung selbst gemachten Aeußerungen,
wenn sie unter den Begriff eines Verbrechens fallen, insbesondere z. B. wegen
Hochverrates. wegen Majestätsbeleidigung, Injurie und Verleumdung dem
Staate, oder Privatpersonen gegenüber nicht verantwortlich seien." (Deutsch.
Staats-R. I. S. S79 ff,). Derselben Ansicht sind die unbekannten Verfasser
des hierher einschlagenden Aufsatzes in der Zeitschr. f. Civilrecht und Praxis
N. F. I. S. 1--46 und der Broschüre über "die sogenannte UnVerantwortlich¬
keit der Landtagsabgeordneten" u. s. w. (Gießen 18S3), ferner die Vertheidi-
gungsschrift "Der permanente landständische Ausschuß in Kurhessen" (Kassel 18S1),
das darin enthaltene Gutachten der göttinger Iuristenfacultät v. Mai 1851
(Art. L.), und das Gutachten von Heidelberg (ebend. S. 71 ff.), endlich E. Herr-
mann in seinem Aufsatz über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Stände¬
mitglieder (Archiv des Criminalrechts 1853. S. 341 ff.). In diesen Schriften
indeß wird vorzugsweise die streng juristische, nicht so die praktisch-politische
Seite der Frage betont; das obige Citat aus H. A. Zachariä, einem der gegen¬
wärtig bedeutendsten Kenner des Staatsrechts in Deutschland, zeigt serner,
wie selbst er es von der praktischen Seite für sehr wohl begreiflich hält, die Rede¬
freiheit der Volksvertreter unbedingt zu schützen, auch begründet er seine dem
entgegenstehende juristische Ansicht nicht weiter.

Die weitaus größten und durch Alter und Geschichte ihrer constitutionellen
Freiheit am schwersten wiegenden Staaten halten in ihren alten und jungen
Verfassungen die unbedingte Redefreiheit der Volksvertreter (in obigem Sinne)
durchaus aufrecht und zeugen damit auf das entschiedenste für die Nichtigkeit
der oben entwickelten theoretischen Sätze und für den diesen zustimmenden Ken-
ner und Schriftsteller des Staatsrechts.


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Interesse und jede Meinungsschattirung, selbst leidenschaftlich, verhandeln kann"
u. s. w. (a. a. O. S. 69).

Andere Staatsrechtslehrer dagegen wollen die Redefreiheit der Volksver¬
treter nicht in obiger Ausdehnung, sondern nur soweit gewahrt wissen, als
dieselbe nicht die Rechte Dritter verletzt. H. A. Zcichariä in Göttingen sagt:
„Die Stände sind hinsichtlich ihrer Meinungsäußerung und Beschlußfassung in
ihrer Sphäre durchaus frei und unabhängig von der Regierung, und in dieser
Beziehung weder nach oben, noch nach unten verantwortlich. Ein Verbrechen
können die Stände als ganzes Corpus so wenig, wie eine andre Corporation
begehn. Ueberschreiten sie aber ihre gesetzliche Sphäre, so sind die Einzelnen,
ebenso wie wenn sie außerhalb der ständischen Thätigkeit, wenn auch bezüglich
auf dieselbe delinquiren. nach den bestehenden Gesetzen zu beurtheilen. Auch
läßt sich ohne eine positiv rechtliche, in neueren Verfassungen sich freilich zur
Sicherung der Freiheit und Unverletzlichkeit der Stände häufig findende Be¬
stimmung, nicht annehmen, daß Mitglieder der Ständeversammlungen resp, stän¬
discher Ausschüsse, wegen ihrer in der Versammlung selbst gemachten Aeußerungen,
wenn sie unter den Begriff eines Verbrechens fallen, insbesondere z. B. wegen
Hochverrates. wegen Majestätsbeleidigung, Injurie und Verleumdung dem
Staate, oder Privatpersonen gegenüber nicht verantwortlich seien." (Deutsch.
Staats-R. I. S. S79 ff,). Derselben Ansicht sind die unbekannten Verfasser
des hierher einschlagenden Aufsatzes in der Zeitschr. f. Civilrecht und Praxis
N. F. I. S. 1—46 und der Broschüre über „die sogenannte UnVerantwortlich¬
keit der Landtagsabgeordneten" u. s. w. (Gießen 18S3), ferner die Vertheidi-
gungsschrift „Der permanente landständische Ausschuß in Kurhessen" (Kassel 18S1),
das darin enthaltene Gutachten der göttinger Iuristenfacultät v. Mai 1851
(Art. L.), und das Gutachten von Heidelberg (ebend. S. 71 ff.), endlich E. Herr-
mann in seinem Aufsatz über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Stände¬
mitglieder (Archiv des Criminalrechts 1853. S. 341 ff.). In diesen Schriften
indeß wird vorzugsweise die streng juristische, nicht so die praktisch-politische
Seite der Frage betont; das obige Citat aus H. A. Zachariä, einem der gegen¬
wärtig bedeutendsten Kenner des Staatsrechts in Deutschland, zeigt serner,
wie selbst er es von der praktischen Seite für sehr wohl begreiflich hält, die Rede¬
freiheit der Volksvertreter unbedingt zu schützen, auch begründet er seine dem
entgegenstehende juristische Ansicht nicht weiter.

Die weitaus größten und durch Alter und Geschichte ihrer constitutionellen
Freiheit am schwersten wiegenden Staaten halten in ihren alten und jungen
Verfassungen die unbedingte Redefreiheit der Volksvertreter (in obigem Sinne)
durchaus aufrecht und zeugen damit auf das entschiedenste für die Nichtigkeit
der oben entwickelten theoretischen Sätze und für den diesen zustimmenden Ken-
ner und Schriftsteller des Staatsrechts.


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[0109] Interesse und jede Meinungsschattirung, selbst leidenschaftlich, verhandeln kann" u. s. w. (a. a. O. S. 69). Andere Staatsrechtslehrer dagegen wollen die Redefreiheit der Volksver¬ treter nicht in obiger Ausdehnung, sondern nur soweit gewahrt wissen, als dieselbe nicht die Rechte Dritter verletzt. H. A. Zcichariä in Göttingen sagt: „Die Stände sind hinsichtlich ihrer Meinungsäußerung und Beschlußfassung in ihrer Sphäre durchaus frei und unabhängig von der Regierung, und in dieser Beziehung weder nach oben, noch nach unten verantwortlich. Ein Verbrechen können die Stände als ganzes Corpus so wenig, wie eine andre Corporation begehn. Ueberschreiten sie aber ihre gesetzliche Sphäre, so sind die Einzelnen, ebenso wie wenn sie außerhalb der ständischen Thätigkeit, wenn auch bezüglich auf dieselbe delinquiren. nach den bestehenden Gesetzen zu beurtheilen. Auch läßt sich ohne eine positiv rechtliche, in neueren Verfassungen sich freilich zur Sicherung der Freiheit und Unverletzlichkeit der Stände häufig findende Be¬ stimmung, nicht annehmen, daß Mitglieder der Ständeversammlungen resp, stän¬ discher Ausschüsse, wegen ihrer in der Versammlung selbst gemachten Aeußerungen, wenn sie unter den Begriff eines Verbrechens fallen, insbesondere z. B. wegen Hochverrates. wegen Majestätsbeleidigung, Injurie und Verleumdung dem Staate, oder Privatpersonen gegenüber nicht verantwortlich seien." (Deutsch. Staats-R. I. S. S79 ff,). Derselben Ansicht sind die unbekannten Verfasser des hierher einschlagenden Aufsatzes in der Zeitschr. f. Civilrecht und Praxis N. F. I. S. 1—46 und der Broschüre über „die sogenannte UnVerantwortlich¬ keit der Landtagsabgeordneten" u. s. w. (Gießen 18S3), ferner die Vertheidi- gungsschrift „Der permanente landständische Ausschuß in Kurhessen" (Kassel 18S1), das darin enthaltene Gutachten der göttinger Iuristenfacultät v. Mai 1851 (Art. L.), und das Gutachten von Heidelberg (ebend. S. 71 ff.), endlich E. Herr- mann in seinem Aufsatz über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Stände¬ mitglieder (Archiv des Criminalrechts 1853. S. 341 ff.). In diesen Schriften indeß wird vorzugsweise die streng juristische, nicht so die praktisch-politische Seite der Frage betont; das obige Citat aus H. A. Zachariä, einem der gegen¬ wärtig bedeutendsten Kenner des Staatsrechts in Deutschland, zeigt serner, wie selbst er es von der praktischen Seite für sehr wohl begreiflich hält, die Rede¬ freiheit der Volksvertreter unbedingt zu schützen, auch begründet er seine dem entgegenstehende juristische Ansicht nicht weiter. Die weitaus größten und durch Alter und Geschichte ihrer constitutionellen Freiheit am schwersten wiegenden Staaten halten in ihren alten und jungen Verfassungen die unbedingte Redefreiheit der Volksvertreter (in obigem Sinne) durchaus aufrecht und zeugen damit auf das entschiedenste für die Nichtigkeit der oben entwickelten theoretischen Sätze und für den diesen zustimmenden Ken- ner und Schriftsteller des Staatsrechts. 13*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/109>, abgerufen am 15.01.2025.