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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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jenigen der Regierung, in der leidenschaftlichen Erregung der Reden augenblicklich
einmal mit ihren Worten gegen die Rechtssphäre Dritter und gegen das Straf¬
gesetz verstoßen. Je mehr in dem Abgeordnetenhause die aus den verschiedenen
Gesellschaftsschichten genommenen wirtlichen Vertreter derselben -- was wir
erstreben müssen -- Platz gewinnen werden, und nicht blos, wie heute noch
fast überall in Deutschland, nur Glieder der vorzugsweise gebildeten Gesellschafts¬
kreise das Volk vertreten, desto mehr wird sich obige leidenschaftliche Erregung
des Augenblickes in den Debatten offenbaren, bis die volle politische Durch¬
bildung des Volkes diesen Mißstand beseitigt. Das liegt in der menschlichen
Natur, wenn sie nicht völlig verlebte und blasirt wurde, begründet, und die
Praxis sogar unseres Herrenhauses, ja selbst der Minister, so Roons Vorwurf
der "Unverschämtheit" gegen Gneist, bestätigte es vielfach, auch erkannte
Herr v. Roon es gegenüber Virchow in dessen Streit mit Bismarck ausdrück¬
lich an. Droht aber jedem leidenschaftlich unbedachten Worte eine Anklage
und gar unter den oben geschilderten bedenklichen Vedingungen, so hütet sich
jeder Vertreter des Volkes (oder der iliegicrnng, falls diesen letzteren nicht eben
jene Bedingungen straflos hinstellen) mit voller Wucht, mit ganzem Nachdruck
seiner Ueberzeugung, dem Willen des Volkes Ausdruck zu verleihen, ja nur
einen directen Tadel mit Freimuth auszusprechen; denn schon dieser kann, wie
gezeigt, strafwürdig erscheinen, z. B. in politischen Zuständen, wie unsre heutigen
Preußischen es sind. So wird die Kammer matt, zweckwidrig, unwahr.

Welche Gefahr endlich kann denn aus solcher augenblicklichen Rechtsverletzung
im Sturm der Rede entstehen? Die völlige Oeffentlichkeit des Vorganges vor
den Augen des Volkes, ja der Völker mindert die Gefahr doch bedeutend, wenn
sie sie nicht ganz aufhebt. Außerdem steht der Weg der Entgegnung durch
das Wort im Hause, durch die Presse außerhalb jedem offen, Petitionen sind
unbeschränkt; vor allem überwacht ja der Präsident des Hauses, der hier doppelt
die Pflicht der ernstesten Strenge und nachdrücklichsten Rüge hat, die Debatte
und rügt die ungehörigen, straffälligen Worte, er ruft den Redner zur Ordnung
und entscheidet dadurch sofort Namens des Hauses über die Behauptung, die
Aeußerung des Berufenen. Genug Schutzmittel für ein wirklich constitutionelles
Volk! Der große Minister Englands, Lord Chatham. wurde von einem eifrigen
Mitgliede des Unterhauses wiederholt mit dem dringenden Verlangen auf
Herabsetzung einer Steuer behelligt. Das Mitglied rief, einen Staar müsse
man anstellen, welcher dem widerhaarigen Minister fort und fort das Verlangen
entgegenschnarre. Pitt antwortete, es sei wohl unnöthig, den Etat Gro߬
britanniens mit den Unterhaltskosten dieses Staares zu belasten, so lange das
ehrenwerthe Mitglied im Hause sitze, und -- das ganze Haus hatte Pitt auf
seiner Seite. Eben die Kammern sind verpflichtet, und sie allein, "auf Grund
ihrer Autonomie dafür Sorge zu tragen, daß durch strenge Handhabung der in


Grenzbllten III. 18os. 13

jenigen der Regierung, in der leidenschaftlichen Erregung der Reden augenblicklich
einmal mit ihren Worten gegen die Rechtssphäre Dritter und gegen das Straf¬
gesetz verstoßen. Je mehr in dem Abgeordnetenhause die aus den verschiedenen
Gesellschaftsschichten genommenen wirtlichen Vertreter derselben — was wir
erstreben müssen — Platz gewinnen werden, und nicht blos, wie heute noch
fast überall in Deutschland, nur Glieder der vorzugsweise gebildeten Gesellschafts¬
kreise das Volk vertreten, desto mehr wird sich obige leidenschaftliche Erregung
des Augenblickes in den Debatten offenbaren, bis die volle politische Durch¬
bildung des Volkes diesen Mißstand beseitigt. Das liegt in der menschlichen
Natur, wenn sie nicht völlig verlebte und blasirt wurde, begründet, und die
Praxis sogar unseres Herrenhauses, ja selbst der Minister, so Roons Vorwurf
der „Unverschämtheit" gegen Gneist, bestätigte es vielfach, auch erkannte
Herr v. Roon es gegenüber Virchow in dessen Streit mit Bismarck ausdrück¬
lich an. Droht aber jedem leidenschaftlich unbedachten Worte eine Anklage
und gar unter den oben geschilderten bedenklichen Vedingungen, so hütet sich
jeder Vertreter des Volkes (oder der iliegicrnng, falls diesen letzteren nicht eben
jene Bedingungen straflos hinstellen) mit voller Wucht, mit ganzem Nachdruck
seiner Ueberzeugung, dem Willen des Volkes Ausdruck zu verleihen, ja nur
einen directen Tadel mit Freimuth auszusprechen; denn schon dieser kann, wie
gezeigt, strafwürdig erscheinen, z. B. in politischen Zuständen, wie unsre heutigen
Preußischen es sind. So wird die Kammer matt, zweckwidrig, unwahr.

Welche Gefahr endlich kann denn aus solcher augenblicklichen Rechtsverletzung
im Sturm der Rede entstehen? Die völlige Oeffentlichkeit des Vorganges vor
den Augen des Volkes, ja der Völker mindert die Gefahr doch bedeutend, wenn
sie sie nicht ganz aufhebt. Außerdem steht der Weg der Entgegnung durch
das Wort im Hause, durch die Presse außerhalb jedem offen, Petitionen sind
unbeschränkt; vor allem überwacht ja der Präsident des Hauses, der hier doppelt
die Pflicht der ernstesten Strenge und nachdrücklichsten Rüge hat, die Debatte
und rügt die ungehörigen, straffälligen Worte, er ruft den Redner zur Ordnung
und entscheidet dadurch sofort Namens des Hauses über die Behauptung, die
Aeußerung des Berufenen. Genug Schutzmittel für ein wirklich constitutionelles
Volk! Der große Minister Englands, Lord Chatham. wurde von einem eifrigen
Mitgliede des Unterhauses wiederholt mit dem dringenden Verlangen auf
Herabsetzung einer Steuer behelligt. Das Mitglied rief, einen Staar müsse
man anstellen, welcher dem widerhaarigen Minister fort und fort das Verlangen
entgegenschnarre. Pitt antwortete, es sei wohl unnöthig, den Etat Gro߬
britanniens mit den Unterhaltskosten dieses Staares zu belasten, so lange das
ehrenwerthe Mitglied im Hause sitze, und — das ganze Haus hatte Pitt auf
seiner Seite. Eben die Kammern sind verpflichtet, und sie allein, „auf Grund
ihrer Autonomie dafür Sorge zu tragen, daß durch strenge Handhabung der in


Grenzbllten III. 18os. 13
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[0107] jenigen der Regierung, in der leidenschaftlichen Erregung der Reden augenblicklich einmal mit ihren Worten gegen die Rechtssphäre Dritter und gegen das Straf¬ gesetz verstoßen. Je mehr in dem Abgeordnetenhause die aus den verschiedenen Gesellschaftsschichten genommenen wirtlichen Vertreter derselben — was wir erstreben müssen — Platz gewinnen werden, und nicht blos, wie heute noch fast überall in Deutschland, nur Glieder der vorzugsweise gebildeten Gesellschafts¬ kreise das Volk vertreten, desto mehr wird sich obige leidenschaftliche Erregung des Augenblickes in den Debatten offenbaren, bis die volle politische Durch¬ bildung des Volkes diesen Mißstand beseitigt. Das liegt in der menschlichen Natur, wenn sie nicht völlig verlebte und blasirt wurde, begründet, und die Praxis sogar unseres Herrenhauses, ja selbst der Minister, so Roons Vorwurf der „Unverschämtheit" gegen Gneist, bestätigte es vielfach, auch erkannte Herr v. Roon es gegenüber Virchow in dessen Streit mit Bismarck ausdrück¬ lich an. Droht aber jedem leidenschaftlich unbedachten Worte eine Anklage und gar unter den oben geschilderten bedenklichen Vedingungen, so hütet sich jeder Vertreter des Volkes (oder der iliegicrnng, falls diesen letzteren nicht eben jene Bedingungen straflos hinstellen) mit voller Wucht, mit ganzem Nachdruck seiner Ueberzeugung, dem Willen des Volkes Ausdruck zu verleihen, ja nur einen directen Tadel mit Freimuth auszusprechen; denn schon dieser kann, wie gezeigt, strafwürdig erscheinen, z. B. in politischen Zuständen, wie unsre heutigen Preußischen es sind. So wird die Kammer matt, zweckwidrig, unwahr. Welche Gefahr endlich kann denn aus solcher augenblicklichen Rechtsverletzung im Sturm der Rede entstehen? Die völlige Oeffentlichkeit des Vorganges vor den Augen des Volkes, ja der Völker mindert die Gefahr doch bedeutend, wenn sie sie nicht ganz aufhebt. Außerdem steht der Weg der Entgegnung durch das Wort im Hause, durch die Presse außerhalb jedem offen, Petitionen sind unbeschränkt; vor allem überwacht ja der Präsident des Hauses, der hier doppelt die Pflicht der ernstesten Strenge und nachdrücklichsten Rüge hat, die Debatte und rügt die ungehörigen, straffälligen Worte, er ruft den Redner zur Ordnung und entscheidet dadurch sofort Namens des Hauses über die Behauptung, die Aeußerung des Berufenen. Genug Schutzmittel für ein wirklich constitutionelles Volk! Der große Minister Englands, Lord Chatham. wurde von einem eifrigen Mitgliede des Unterhauses wiederholt mit dem dringenden Verlangen auf Herabsetzung einer Steuer behelligt. Das Mitglied rief, einen Staar müsse man anstellen, welcher dem widerhaarigen Minister fort und fort das Verlangen entgegenschnarre. Pitt antwortete, es sei wohl unnöthig, den Etat Gro߬ britanniens mit den Unterhaltskosten dieses Staares zu belasten, so lange das ehrenwerthe Mitglied im Hause sitze, und — das ganze Haus hatte Pitt auf seiner Seite. Eben die Kammern sind verpflichtet, und sie allein, „auf Grund ihrer Autonomie dafür Sorge zu tragen, daß durch strenge Handhabung der in Grenzbllten III. 18os. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/107>, abgerufen am 15.01.2025.