Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

^parlamentarischen Debatte erklärte der Ministerpräsident v. Bismarck: "die
königliche Staatsregierung ist der Ansicht, daß ein Privilegium zu Beleidigungen
und Verleumdungen in Preußen nicht bestehen sollte, oder doch nur so lange
geduldet werden könnte, als das sittliche Gefühl sich stark genug erweist, um
die Ausübung eines solchen Privilegiums zu verhindern. Die königliche Staats¬
regierung hat den Eindruck, daß diese Prämisse nicht mehr zutrifft, und daß
sie deshalb der Frage: besteht ein solches Privilegium bei uns oder nicht, näher
treten muß. Wenn es bestände und benutzt wird, so brauche ich nicht nach¬
zuweisen, daß es der Gerechtigkeit, der Vernunft, der Würde des Landes wider¬
spricht. Ich gebe gern zu. daß die Versuche, erfahrungsmäßig zu ermitteln,
ob die Gerichte das Bestehen eines solchen Privilegiums anerkennen, bisher
noch nicht erschöpfend genug ausgefallen sind. Nach dem Antrage von Waldau
wird die Existenz des Ucbelstandes bezweifelt und der Negierung anheimgegeben,
der Frage, ob die Gerichte die Verfassung so auslegen, daß volle Straflosig¬
keit für Injurien und Verbrechen, so weit sie durch das Wort begangen werden
können, existirt. näher zu treten und sie genauer und sichrer, als bisher zu
ermitteln. Die königliche Regierung ist bereit, diesen Weg zu betreten. Sollte
sich dabei herausstellen, daß dennoch nach den Erkenntnissen der königlichen
Gerichte dieses Privilegium aä usum besteht, so wird die Negierung bestrebt
sein, auf den gesetzmäßigen Weg einzutreten, seine Abschaffung anzubahnen."

Hier wird also klar das Mittel angezeigt, welches die Regierung gegen
die ausschreitcnde Redefreiheit der Abgeordneten anwenden will: zuerst Anklage
durch die Staatsanwälte nach Schluß der Sitzungen, um gerichtliche Ent¬
scheidungen gegen diejenigen Abgeordneten zu erzielen, deren Meinungsäußerun¬
gen in der Kammer den Thatbestand einer strafrechtlichen Handlung bilden, die
Rechte Dritter verletzen; versagt dies Mittel, dann Anträge auf gesetzliche Be¬
schränkung des Art. 84 der Verfassung. Demgemäß häufen sich seit Schluß
der Sitzungen immer bestimmtere Gerüchte, der Justizminister habe schon die
Oberstaatsanwälte (nicht den Gcneralstaatsanwalt, der gar nicht übergeordnete
Behörde jener ist) angewiesen, mit desfälligen Anklagen gegen die Abgeordneten
vorzugehen. Nach den obigen Aeußerungen Bismarcks sind diese Gerüchte
höchstens verfrüht, im Inhalt zweifellos richtig.

Bedroht oder verletzt dieses Vorgehen der Regierung unsre Verfassung?
Streng parteilos wollen und müssen wir dies untersuchen.

In der Theorie des constitutionell monarchischen Staatsrechts lassen sich
eine Reihe von Gründen entwickeln, aus welchen die Redefreiheit der Abge¬
ordneten, einer ersten und zweiten Kammer, in der hier beabsichtigten oder
irgendeiner andern Weise. -- außer dem Ordnungsruf des Präsidenten der
Kammer --. nicht beschränkt werden darf, ohne das Wesen, den Zweck der
Kammern zu beeinträchtigen, ja wohl gar ganz aufzuheben. Mag man den


^parlamentarischen Debatte erklärte der Ministerpräsident v. Bismarck: „die
königliche Staatsregierung ist der Ansicht, daß ein Privilegium zu Beleidigungen
und Verleumdungen in Preußen nicht bestehen sollte, oder doch nur so lange
geduldet werden könnte, als das sittliche Gefühl sich stark genug erweist, um
die Ausübung eines solchen Privilegiums zu verhindern. Die königliche Staats¬
regierung hat den Eindruck, daß diese Prämisse nicht mehr zutrifft, und daß
sie deshalb der Frage: besteht ein solches Privilegium bei uns oder nicht, näher
treten muß. Wenn es bestände und benutzt wird, so brauche ich nicht nach¬
zuweisen, daß es der Gerechtigkeit, der Vernunft, der Würde des Landes wider¬
spricht. Ich gebe gern zu. daß die Versuche, erfahrungsmäßig zu ermitteln,
ob die Gerichte das Bestehen eines solchen Privilegiums anerkennen, bisher
noch nicht erschöpfend genug ausgefallen sind. Nach dem Antrage von Waldau
wird die Existenz des Ucbelstandes bezweifelt und der Negierung anheimgegeben,
der Frage, ob die Gerichte die Verfassung so auslegen, daß volle Straflosig¬
keit für Injurien und Verbrechen, so weit sie durch das Wort begangen werden
können, existirt. näher zu treten und sie genauer und sichrer, als bisher zu
ermitteln. Die königliche Regierung ist bereit, diesen Weg zu betreten. Sollte
sich dabei herausstellen, daß dennoch nach den Erkenntnissen der königlichen
Gerichte dieses Privilegium aä usum besteht, so wird die Negierung bestrebt
sein, auf den gesetzmäßigen Weg einzutreten, seine Abschaffung anzubahnen."

Hier wird also klar das Mittel angezeigt, welches die Regierung gegen
die ausschreitcnde Redefreiheit der Abgeordneten anwenden will: zuerst Anklage
durch die Staatsanwälte nach Schluß der Sitzungen, um gerichtliche Ent¬
scheidungen gegen diejenigen Abgeordneten zu erzielen, deren Meinungsäußerun¬
gen in der Kammer den Thatbestand einer strafrechtlichen Handlung bilden, die
Rechte Dritter verletzen; versagt dies Mittel, dann Anträge auf gesetzliche Be¬
schränkung des Art. 84 der Verfassung. Demgemäß häufen sich seit Schluß
der Sitzungen immer bestimmtere Gerüchte, der Justizminister habe schon die
Oberstaatsanwälte (nicht den Gcneralstaatsanwalt, der gar nicht übergeordnete
Behörde jener ist) angewiesen, mit desfälligen Anklagen gegen die Abgeordneten
vorzugehen. Nach den obigen Aeußerungen Bismarcks sind diese Gerüchte
höchstens verfrüht, im Inhalt zweifellos richtig.

Bedroht oder verletzt dieses Vorgehen der Regierung unsre Verfassung?
Streng parteilos wollen und müssen wir dies untersuchen.

In der Theorie des constitutionell monarchischen Staatsrechts lassen sich
eine Reihe von Gründen entwickeln, aus welchen die Redefreiheit der Abge¬
ordneten, einer ersten und zweiten Kammer, in der hier beabsichtigten oder
irgendeiner andern Weise. — außer dem Ordnungsruf des Präsidenten der
Kammer —. nicht beschränkt werden darf, ohne das Wesen, den Zweck der
Kammern zu beeinträchtigen, ja wohl gar ganz aufzuheben. Mag man den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0105" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283458"/>
          <p xml:id="ID_303" prev="#ID_302"> ^parlamentarischen Debatte erklärte der Ministerpräsident v. Bismarck: &#x201E;die<lb/>
königliche Staatsregierung ist der Ansicht, daß ein Privilegium zu Beleidigungen<lb/>
und Verleumdungen in Preußen nicht bestehen sollte, oder doch nur so lange<lb/>
geduldet werden könnte, als das sittliche Gefühl sich stark genug erweist, um<lb/>
die Ausübung eines solchen Privilegiums zu verhindern. Die königliche Staats¬<lb/>
regierung hat den Eindruck, daß diese Prämisse nicht mehr zutrifft, und daß<lb/>
sie deshalb der Frage: besteht ein solches Privilegium bei uns oder nicht, näher<lb/>
treten muß. Wenn es bestände und benutzt wird, so brauche ich nicht nach¬<lb/>
zuweisen, daß es der Gerechtigkeit, der Vernunft, der Würde des Landes wider¬<lb/>
spricht. Ich gebe gern zu. daß die Versuche, erfahrungsmäßig zu ermitteln,<lb/>
ob die Gerichte das Bestehen eines solchen Privilegiums anerkennen, bisher<lb/>
noch nicht erschöpfend genug ausgefallen sind. Nach dem Antrage von Waldau<lb/>
wird die Existenz des Ucbelstandes bezweifelt und der Negierung anheimgegeben,<lb/>
der Frage, ob die Gerichte die Verfassung so auslegen, daß volle Straflosig¬<lb/>
keit für Injurien und Verbrechen, so weit sie durch das Wort begangen werden<lb/>
können, existirt. näher zu treten und sie genauer und sichrer, als bisher zu<lb/>
ermitteln. Die königliche Regierung ist bereit, diesen Weg zu betreten. Sollte<lb/>
sich dabei herausstellen, daß dennoch nach den Erkenntnissen der königlichen<lb/>
Gerichte dieses Privilegium aä usum besteht, so wird die Negierung bestrebt<lb/>
sein, auf den gesetzmäßigen Weg einzutreten, seine Abschaffung anzubahnen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_304"> Hier wird also klar das Mittel angezeigt, welches die Regierung gegen<lb/>
die ausschreitcnde Redefreiheit der Abgeordneten anwenden will: zuerst Anklage<lb/>
durch die Staatsanwälte nach Schluß der Sitzungen, um gerichtliche Ent¬<lb/>
scheidungen gegen diejenigen Abgeordneten zu erzielen, deren Meinungsäußerun¬<lb/>
gen in der Kammer den Thatbestand einer strafrechtlichen Handlung bilden, die<lb/>
Rechte Dritter verletzen; versagt dies Mittel, dann Anträge auf gesetzliche Be¬<lb/>
schränkung des Art. 84 der Verfassung. Demgemäß häufen sich seit Schluß<lb/>
der Sitzungen immer bestimmtere Gerüchte, der Justizminister habe schon die<lb/>
Oberstaatsanwälte (nicht den Gcneralstaatsanwalt, der gar nicht übergeordnete<lb/>
Behörde jener ist) angewiesen, mit desfälligen Anklagen gegen die Abgeordneten<lb/>
vorzugehen. Nach den obigen Aeußerungen Bismarcks sind diese Gerüchte<lb/>
höchstens verfrüht, im Inhalt zweifellos richtig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_305"> Bedroht oder verletzt dieses Vorgehen der Regierung unsre Verfassung?<lb/>
Streng parteilos wollen und müssen wir dies untersuchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_306" next="#ID_307"> In der Theorie des constitutionell monarchischen Staatsrechts lassen sich<lb/>
eine Reihe von Gründen entwickeln, aus welchen die Redefreiheit der Abge¬<lb/>
ordneten, einer ersten und zweiten Kammer, in der hier beabsichtigten oder<lb/>
irgendeiner andern Weise. &#x2014; außer dem Ordnungsruf des Präsidenten der<lb/>
Kammer &#x2014;. nicht beschränkt werden darf, ohne das Wesen, den Zweck der<lb/>
Kammern zu beeinträchtigen, ja wohl gar ganz aufzuheben. Mag man den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0105] ^parlamentarischen Debatte erklärte der Ministerpräsident v. Bismarck: „die königliche Staatsregierung ist der Ansicht, daß ein Privilegium zu Beleidigungen und Verleumdungen in Preußen nicht bestehen sollte, oder doch nur so lange geduldet werden könnte, als das sittliche Gefühl sich stark genug erweist, um die Ausübung eines solchen Privilegiums zu verhindern. Die königliche Staats¬ regierung hat den Eindruck, daß diese Prämisse nicht mehr zutrifft, und daß sie deshalb der Frage: besteht ein solches Privilegium bei uns oder nicht, näher treten muß. Wenn es bestände und benutzt wird, so brauche ich nicht nach¬ zuweisen, daß es der Gerechtigkeit, der Vernunft, der Würde des Landes wider¬ spricht. Ich gebe gern zu. daß die Versuche, erfahrungsmäßig zu ermitteln, ob die Gerichte das Bestehen eines solchen Privilegiums anerkennen, bisher noch nicht erschöpfend genug ausgefallen sind. Nach dem Antrage von Waldau wird die Existenz des Ucbelstandes bezweifelt und der Negierung anheimgegeben, der Frage, ob die Gerichte die Verfassung so auslegen, daß volle Straflosig¬ keit für Injurien und Verbrechen, so weit sie durch das Wort begangen werden können, existirt. näher zu treten und sie genauer und sichrer, als bisher zu ermitteln. Die königliche Regierung ist bereit, diesen Weg zu betreten. Sollte sich dabei herausstellen, daß dennoch nach den Erkenntnissen der königlichen Gerichte dieses Privilegium aä usum besteht, so wird die Negierung bestrebt sein, auf den gesetzmäßigen Weg einzutreten, seine Abschaffung anzubahnen." Hier wird also klar das Mittel angezeigt, welches die Regierung gegen die ausschreitcnde Redefreiheit der Abgeordneten anwenden will: zuerst Anklage durch die Staatsanwälte nach Schluß der Sitzungen, um gerichtliche Ent¬ scheidungen gegen diejenigen Abgeordneten zu erzielen, deren Meinungsäußerun¬ gen in der Kammer den Thatbestand einer strafrechtlichen Handlung bilden, die Rechte Dritter verletzen; versagt dies Mittel, dann Anträge auf gesetzliche Be¬ schränkung des Art. 84 der Verfassung. Demgemäß häufen sich seit Schluß der Sitzungen immer bestimmtere Gerüchte, der Justizminister habe schon die Oberstaatsanwälte (nicht den Gcneralstaatsanwalt, der gar nicht übergeordnete Behörde jener ist) angewiesen, mit desfälligen Anklagen gegen die Abgeordneten vorzugehen. Nach den obigen Aeußerungen Bismarcks sind diese Gerüchte höchstens verfrüht, im Inhalt zweifellos richtig. Bedroht oder verletzt dieses Vorgehen der Regierung unsre Verfassung? Streng parteilos wollen und müssen wir dies untersuchen. In der Theorie des constitutionell monarchischen Staatsrechts lassen sich eine Reihe von Gründen entwickeln, aus welchen die Redefreiheit der Abge¬ ordneten, einer ersten und zweiten Kammer, in der hier beabsichtigten oder irgendeiner andern Weise. — außer dem Ordnungsruf des Präsidenten der Kammer —. nicht beschränkt werden darf, ohne das Wesen, den Zweck der Kammern zu beeinträchtigen, ja wohl gar ganz aufzuheben. Mag man den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/105
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/105>, abgerufen am 15.01.2025.