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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Lied aufnahm. Bei den Bildern vom Meer und vom Bauch der Unterwelt
konnte ja der Leser an den Bauch des Fisches denken. Freilich paßt die Si¬
tuation des Dichters schlecht zu der Jona's, und es ist anzunehmen, daß der
Erzähler das Lied unrichtig als einen Bittgesang auffaßte. Auf keinen Fall
darf man mit einigen Erklärern gegen den klaren Wortlaut das Lied als Dank¬
lied Jona's nach Befreiung aus dem Bauche des Fisches ansehn. Ebenso
wenig kann ich Hitzigs Ansicht billigen, nach welchem der Erzähler das Lied
selbst aus Bruchstücken verschiedener religiöser Lieder zusammengesetzt hätte; denn
hätte der Erzähler das Lied auch nur als Canto verfaßt, so hätte er doch gewiß
die richtige Situation hergestellt und eine flehentliche Bitte zu Gott um Ver¬
gebung und Errettung eingefügt. Ganz abenteuerlich, wie so manche andere
Ansichten dieses Gelehrten, ist die Meinung Bunsens, dies sei ein echtes Lied
des alten Propheten Jona, aus dessen falscher Ausfassung die uns vorliegende
Gestalt der Geschichte Jona's entsprungen sei. Uebrigens ist die Aufnahme
eines ältern Liedes in eine neuere Erzählung an einer unpassenden Stelle nicht
ohne Analogie im alten Testament: 1 Sam. 2, 1 ff. ist der Mutter Samuels
ein Lied in den Mund gelegt, welches von einem hochgestellten Mann nach
großen Thaten dem Herrn zum Dank und Preis gesungen ist.

Der Verfasser ist sehr originell, wenn ihm auch hier und da die alten
Muster vorschweben. Der Unmuth und selbst die äußere Stellung Jona's im
letzten Capitel ist der Erzählung von Ella nachgebildet, aus der (in V. 3 und 8
sogar noch einige Ausdrücke nachtönen. Freilich steht der titanenhafte Prophet,
dessen tiefen Schmerz über die Vergeblichkeit seines Wirkens Mendelssohn in
seinen schönsten Tönen dargestellt hat, hoch über dem eigensinnigen, unver¬
ständigen Jona.

Die ganze Art der Komposition und der Gedanken, sowie nicht minder
die höchst eigenthümliche, etwas aramaisirende Sprache weisen unserer Er¬
zählung ein ziemlich spätes Alter an. An eine vorexilische Abfassung ist gar
nicht zu denken. Doch darf man andrerseits das Alter des Buches nicht zu
tief herabsetzen. Der um 190 v. Chr. schreibende Sirach kennt (49, 10) das
Buch der 12 Propheten (die Echtheit der Stelle ist mit Unrecht angefochten),
also auch unser Buch, und das ungefähr um dieselbe Zeit geschriebene Buch
Tobie weist (14, 8) freilich etwas ungeschickt, auf das Buch Jona hin. Die
Aufnahme in das Buch der 12 Propheten macht es sogar wahrscheinlich, daß
die Erzählung schon im fünften Jahrhundert v. Chr. entstanden ist, da sich der
Abschluß dieses Buches schwerlich hinter das Jahr 400 setzen läßt.

Die Aufnahme in diese Sammlung prophetischer Schriften, welche sonst¬
alle einen ganz andern Charakter haben, verdankt unsere Erzählung wohl
wesentlich dem Wunsche, die heilige Zwölfzahl voll zu machen, auf welche man
seit alten Zeiten großen Werth gelegt hat. Ihre Stelle bekam sie im Anfang


Lied aufnahm. Bei den Bildern vom Meer und vom Bauch der Unterwelt
konnte ja der Leser an den Bauch des Fisches denken. Freilich paßt die Si¬
tuation des Dichters schlecht zu der Jona's, und es ist anzunehmen, daß der
Erzähler das Lied unrichtig als einen Bittgesang auffaßte. Auf keinen Fall
darf man mit einigen Erklärern gegen den klaren Wortlaut das Lied als Dank¬
lied Jona's nach Befreiung aus dem Bauche des Fisches ansehn. Ebenso
wenig kann ich Hitzigs Ansicht billigen, nach welchem der Erzähler das Lied
selbst aus Bruchstücken verschiedener religiöser Lieder zusammengesetzt hätte; denn
hätte der Erzähler das Lied auch nur als Canto verfaßt, so hätte er doch gewiß
die richtige Situation hergestellt und eine flehentliche Bitte zu Gott um Ver¬
gebung und Errettung eingefügt. Ganz abenteuerlich, wie so manche andere
Ansichten dieses Gelehrten, ist die Meinung Bunsens, dies sei ein echtes Lied
des alten Propheten Jona, aus dessen falscher Ausfassung die uns vorliegende
Gestalt der Geschichte Jona's entsprungen sei. Uebrigens ist die Aufnahme
eines ältern Liedes in eine neuere Erzählung an einer unpassenden Stelle nicht
ohne Analogie im alten Testament: 1 Sam. 2, 1 ff. ist der Mutter Samuels
ein Lied in den Mund gelegt, welches von einem hochgestellten Mann nach
großen Thaten dem Herrn zum Dank und Preis gesungen ist.

Der Verfasser ist sehr originell, wenn ihm auch hier und da die alten
Muster vorschweben. Der Unmuth und selbst die äußere Stellung Jona's im
letzten Capitel ist der Erzählung von Ella nachgebildet, aus der (in V. 3 und 8
sogar noch einige Ausdrücke nachtönen. Freilich steht der titanenhafte Prophet,
dessen tiefen Schmerz über die Vergeblichkeit seines Wirkens Mendelssohn in
seinen schönsten Tönen dargestellt hat, hoch über dem eigensinnigen, unver¬
ständigen Jona.

Die ganze Art der Komposition und der Gedanken, sowie nicht minder
die höchst eigenthümliche, etwas aramaisirende Sprache weisen unserer Er¬
zählung ein ziemlich spätes Alter an. An eine vorexilische Abfassung ist gar
nicht zu denken. Doch darf man andrerseits das Alter des Buches nicht zu
tief herabsetzen. Der um 190 v. Chr. schreibende Sirach kennt (49, 10) das
Buch der 12 Propheten (die Echtheit der Stelle ist mit Unrecht angefochten),
also auch unser Buch, und das ungefähr um dieselbe Zeit geschriebene Buch
Tobie weist (14, 8) freilich etwas ungeschickt, auf das Buch Jona hin. Die
Aufnahme in das Buch der 12 Propheten macht es sogar wahrscheinlich, daß
die Erzählung schon im fünften Jahrhundert v. Chr. entstanden ist, da sich der
Abschluß dieses Buches schwerlich hinter das Jahr 400 setzen läßt.

Die Aufnahme in diese Sammlung prophetischer Schriften, welche sonst¬
alle einen ganz andern Charakter haben, verdankt unsere Erzählung wohl
wesentlich dem Wunsche, die heilige Zwölfzahl voll zu machen, auf welche man
seit alten Zeiten großen Werth gelegt hat. Ihre Stelle bekam sie im Anfang


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[0103] Lied aufnahm. Bei den Bildern vom Meer und vom Bauch der Unterwelt konnte ja der Leser an den Bauch des Fisches denken. Freilich paßt die Si¬ tuation des Dichters schlecht zu der Jona's, und es ist anzunehmen, daß der Erzähler das Lied unrichtig als einen Bittgesang auffaßte. Auf keinen Fall darf man mit einigen Erklärern gegen den klaren Wortlaut das Lied als Dank¬ lied Jona's nach Befreiung aus dem Bauche des Fisches ansehn. Ebenso wenig kann ich Hitzigs Ansicht billigen, nach welchem der Erzähler das Lied selbst aus Bruchstücken verschiedener religiöser Lieder zusammengesetzt hätte; denn hätte der Erzähler das Lied auch nur als Canto verfaßt, so hätte er doch gewiß die richtige Situation hergestellt und eine flehentliche Bitte zu Gott um Ver¬ gebung und Errettung eingefügt. Ganz abenteuerlich, wie so manche andere Ansichten dieses Gelehrten, ist die Meinung Bunsens, dies sei ein echtes Lied des alten Propheten Jona, aus dessen falscher Ausfassung die uns vorliegende Gestalt der Geschichte Jona's entsprungen sei. Uebrigens ist die Aufnahme eines ältern Liedes in eine neuere Erzählung an einer unpassenden Stelle nicht ohne Analogie im alten Testament: 1 Sam. 2, 1 ff. ist der Mutter Samuels ein Lied in den Mund gelegt, welches von einem hochgestellten Mann nach großen Thaten dem Herrn zum Dank und Preis gesungen ist. Der Verfasser ist sehr originell, wenn ihm auch hier und da die alten Muster vorschweben. Der Unmuth und selbst die äußere Stellung Jona's im letzten Capitel ist der Erzählung von Ella nachgebildet, aus der (in V. 3 und 8 sogar noch einige Ausdrücke nachtönen. Freilich steht der titanenhafte Prophet, dessen tiefen Schmerz über die Vergeblichkeit seines Wirkens Mendelssohn in seinen schönsten Tönen dargestellt hat, hoch über dem eigensinnigen, unver¬ ständigen Jona. Die ganze Art der Komposition und der Gedanken, sowie nicht minder die höchst eigenthümliche, etwas aramaisirende Sprache weisen unserer Er¬ zählung ein ziemlich spätes Alter an. An eine vorexilische Abfassung ist gar nicht zu denken. Doch darf man andrerseits das Alter des Buches nicht zu tief herabsetzen. Der um 190 v. Chr. schreibende Sirach kennt (49, 10) das Buch der 12 Propheten (die Echtheit der Stelle ist mit Unrecht angefochten), also auch unser Buch, und das ungefähr um dieselbe Zeit geschriebene Buch Tobie weist (14, 8) freilich etwas ungeschickt, auf das Buch Jona hin. Die Aufnahme in das Buch der 12 Propheten macht es sogar wahrscheinlich, daß die Erzählung schon im fünften Jahrhundert v. Chr. entstanden ist, da sich der Abschluß dieses Buches schwerlich hinter das Jahr 400 setzen läßt. Die Aufnahme in diese Sammlung prophetischer Schriften, welche sonst¬ alle einen ganz andern Charakter haben, verdankt unsere Erzählung wohl wesentlich dem Wunsche, die heilige Zwölfzahl voll zu machen, auf welche man seit alten Zeiten großen Werth gelegt hat. Ihre Stelle bekam sie im Anfang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/103>, abgerufen am 15.01.2025.