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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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sinnliche wird. Auch bedürfte er der Person eines solchen, um einen unmittel¬
baren Verkehr mit Gott darstellen zu können.

Sehr hübsch ist die Schlußscene mit dem Wunderbaum. Auch daß die
Geschichte ganz plötzlich abbricht, kann ich nicht tadeln. Es ist ja nicht darauf
abgesehn, eine Geschichte Jona's zu geben, sondern nachdem der Verfasser
seine Lehren ausgesprochen, kann er den Schluß abbrechen, wie er ohne Ein¬
leitung angefangen hat.

Dagegen hat der Verfasser ein eigenthümliches Versehen mit dem Gebet
Jona's im Fischbauche begangen. Nach dem Zusammenhang der Rede ist es
ein Gebet aus der Noth; betrachten wir aber die Worte selbst, so sehen wir,
daß es ein Danklied für Rettung aus der Noth ist. Damit der Leser selbst
entscheiden könne, gebe ich das Lied in wörtlicher Uebersetzung:

Cap. 2 V. 3: "Ich rief aus meiner Noth zum Herrn, und er erhörte
mich; aus der Unterwelt Bauch schrie ich: Du hörtest meine Stimme.

V. 4. Du hattest mich in die Tiefe, mitten ins Meer geworfen, ein
Strom umgab mich, all Deine Brandungen und Wogen gingen über mich. .

V. ö. Da dachte ich: "verstoßen bin ich aus Deinen Augen." Doch werd'
es wieder Deinen heiligen Tempel schaun!

V. 6. Das Wasser umfing mich, ans Leben ging's mir,*) die Fluth
Umringte mich, Schilf war an mein Haupt gebunden.

V. 7. Bis zu den Gründen der Berge war ich hinabgesunken, der Erde
Riegel waren hinter mir (geschlossen) für immer: da zogst Du. mein Gott, aus
der Grube mein Leben hervor.

V. 8. Als mir meine Seele verschmachten wollte, gedachte ich des Herrn:
da kam zu Dir mein Gebet in Deinen heiligen Tempel.

V. 9. Die, welche Sündeneitelkeiten im Auge behalten, verlassen ihre
Frömmigkeit.

V. 10. Ich aber will Dir mit lautem Preise opfern, was ich gelobte, will
ich bezahlen, Hilfe kommt vom Herrn."

Wer die Sprache der Psalmen auch nur oberflächlich kennt, der weiß, daß
das Versinken ins Meer, das Bedecktsein durch die Wogen einerseits, das Hin¬
abfahren zur Unterwelt oder in die Tiefe der Erde andrerseits geläufige Bilder
des tiefsten Unglücks sind. Beide Bilder (deren letztes zunächst das Begraben¬
sein bedeutet) sind in unserm Liede angewandt, das erste in V. 4 un5 6. das
andere in V. 3 und 7. Der Dichter aber preist Gott, daß er ihn aus dieser
Noth befreit habe, so daß er wieder den Tempel schauen werde.

Da das Gedicht auch ein weit alterthümlicheres Gepräge trägt als die
Erzählung, so ist nicht daran zu zweifeln, daß der Erzähler hier ein älteres



') Wörtlich: Das Wasser umfing mich bis ans Leben.

sinnliche wird. Auch bedürfte er der Person eines solchen, um einen unmittel¬
baren Verkehr mit Gott darstellen zu können.

Sehr hübsch ist die Schlußscene mit dem Wunderbaum. Auch daß die
Geschichte ganz plötzlich abbricht, kann ich nicht tadeln. Es ist ja nicht darauf
abgesehn, eine Geschichte Jona's zu geben, sondern nachdem der Verfasser
seine Lehren ausgesprochen, kann er den Schluß abbrechen, wie er ohne Ein¬
leitung angefangen hat.

Dagegen hat der Verfasser ein eigenthümliches Versehen mit dem Gebet
Jona's im Fischbauche begangen. Nach dem Zusammenhang der Rede ist es
ein Gebet aus der Noth; betrachten wir aber die Worte selbst, so sehen wir,
daß es ein Danklied für Rettung aus der Noth ist. Damit der Leser selbst
entscheiden könne, gebe ich das Lied in wörtlicher Uebersetzung:

Cap. 2 V. 3: „Ich rief aus meiner Noth zum Herrn, und er erhörte
mich; aus der Unterwelt Bauch schrie ich: Du hörtest meine Stimme.

V. 4. Du hattest mich in die Tiefe, mitten ins Meer geworfen, ein
Strom umgab mich, all Deine Brandungen und Wogen gingen über mich. .

V. ö. Da dachte ich: „verstoßen bin ich aus Deinen Augen." Doch werd'
es wieder Deinen heiligen Tempel schaun!

V. 6. Das Wasser umfing mich, ans Leben ging's mir,*) die Fluth
Umringte mich, Schilf war an mein Haupt gebunden.

V. 7. Bis zu den Gründen der Berge war ich hinabgesunken, der Erde
Riegel waren hinter mir (geschlossen) für immer: da zogst Du. mein Gott, aus
der Grube mein Leben hervor.

V. 8. Als mir meine Seele verschmachten wollte, gedachte ich des Herrn:
da kam zu Dir mein Gebet in Deinen heiligen Tempel.

V. 9. Die, welche Sündeneitelkeiten im Auge behalten, verlassen ihre
Frömmigkeit.

V. 10. Ich aber will Dir mit lautem Preise opfern, was ich gelobte, will
ich bezahlen, Hilfe kommt vom Herrn."

Wer die Sprache der Psalmen auch nur oberflächlich kennt, der weiß, daß
das Versinken ins Meer, das Bedecktsein durch die Wogen einerseits, das Hin¬
abfahren zur Unterwelt oder in die Tiefe der Erde andrerseits geläufige Bilder
des tiefsten Unglücks sind. Beide Bilder (deren letztes zunächst das Begraben¬
sein bedeutet) sind in unserm Liede angewandt, das erste in V. 4 un5 6. das
andere in V. 3 und 7. Der Dichter aber preist Gott, daß er ihn aus dieser
Noth befreit habe, so daß er wieder den Tempel schauen werde.

Da das Gedicht auch ein weit alterthümlicheres Gepräge trägt als die
Erzählung, so ist nicht daran zu zweifeln, daß der Erzähler hier ein älteres



') Wörtlich: Das Wasser umfing mich bis ans Leben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/102>, abgerufen am 15.01.2025.