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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Man sieht, der Verfasser war von hohen sittlichen und humanen Ideen
erfüllt, der jüdische Particularismus war bei ihm schon fast ganz durch¬
brochen.

Durch die Wahl Jona's als Hauptperson hatte er sich ein entlegenes Ge¬
biet gewählt, auf welchem er für die Dichtung freien Spielraum hatte. Im
Zeitalter des geschichtlichen Jona war Ninive die Hauptstadt des größten Reichs,
das nicht lange darauf mit Israel feindlich zusammenstieß und in der Erinnerung
als ein Reich des Frevels dastand. Hier war daher ein zweckmäßiger Ort zur
Darstellung des großen Gedankens. Daß die Wirksamkeit eines israelitischen
Propheten in Ninive undenkbar, daß zumal eine so rasche Bekehrung der Be¬
wohner eine Unmöglichkeit war, daß die Klagen der Propheten über Niniveh
Bosheit erst nach dieser Zeit erschallen, ohne je eine Rücksicht auf eine frühere
Bekehrung desselben zu nehmen, das konnte ihn alles nicht kümmern; er schrieb ja
weder Geschichte, noch einen historischen Roman im modernen Sinne. Um das
Unrecht des mürrischen Sinnes recht zu zeigen, läßt er ihn bei dem Propheten
selbst erscheinen. Dieser ahnt sogleich, daß Gott seine Drohung doch nicht
ausführen werde, und geht soweit in seiner Thorheit, daß er Gott entfliehen
will. Tartessus ist genannt, weil dieser Ort der Endpunkt der hebräischen
Weltkunde im Westen war; um nicht nach Osten gehn zu müssen, sucht er
in den fernen Westen zu fliehn, und scheut sogar das Meer nicht, vor dem
doch die Jsraeliten von jeher ein gewaltiges Grauen hatten. Die Art, wie
Jona an diesem Vorhaben gehindert und zugleich recht nachdrücklich wegen seiner
Verkehrtheit zurechtgewiesen wird, kommt uns allerdings etwas seltsam vor,
aber wir müssen bei der Beurtheilung alter Literaturwerke beständig den Ge¬
schmack und die Ansichten des Volkes vor Augen haben, aus dem jene hervor¬
gegangen sind. Für den Hebräer hatte dieser Aufenthalt im Bauche des Fisches
gar nichts so Auffallendes; er war noch an ganz andre Wunder gewöhnt.
Dazu gewährte dies Seeabcnteuer noch Gelegenheit, den Eindruck des gött¬
lichen Wirkens auf die heidnischen Schiffer lebendig zu veranschaulichen. Die
ganze übrige Entwicklung der Erzählung ergiebt sich von selbst.

Man hat die Geschichte Jona's mehrfach sehr hart beurtheilt; ich kann
mich diesem Tadel nicht anschließen: freilich kommen einige sehr unpassende
Züge vor, wie der, daß auch das Vieh fasten muß und in Trauergewänder
gekleidet wird. Aber im Ganzen ist die Erzählung gewandt, lebendig, anschau¬
lich und eindringlich. Der Charakter des Helden ist sehr natürlich dargelegt.
Der Eigensinn und die Ungeduld des Propheten hätten in den wenigen
Zügen kaum besser dargestellt werden können. Man kann freilich fragen: wie
kam der Verfasser dazu, den Helden zu einem Propheten zu machen? Die Ursache
ist die, daß seine Ansicht von der Aufhebung der göttlichen durch die Propheten
Verkündeten Strafdecrete durch das Auftreten des Propheten am besten der-


12*

Man sieht, der Verfasser war von hohen sittlichen und humanen Ideen
erfüllt, der jüdische Particularismus war bei ihm schon fast ganz durch¬
brochen.

Durch die Wahl Jona's als Hauptperson hatte er sich ein entlegenes Ge¬
biet gewählt, auf welchem er für die Dichtung freien Spielraum hatte. Im
Zeitalter des geschichtlichen Jona war Ninive die Hauptstadt des größten Reichs,
das nicht lange darauf mit Israel feindlich zusammenstieß und in der Erinnerung
als ein Reich des Frevels dastand. Hier war daher ein zweckmäßiger Ort zur
Darstellung des großen Gedankens. Daß die Wirksamkeit eines israelitischen
Propheten in Ninive undenkbar, daß zumal eine so rasche Bekehrung der Be¬
wohner eine Unmöglichkeit war, daß die Klagen der Propheten über Niniveh
Bosheit erst nach dieser Zeit erschallen, ohne je eine Rücksicht auf eine frühere
Bekehrung desselben zu nehmen, das konnte ihn alles nicht kümmern; er schrieb ja
weder Geschichte, noch einen historischen Roman im modernen Sinne. Um das
Unrecht des mürrischen Sinnes recht zu zeigen, läßt er ihn bei dem Propheten
selbst erscheinen. Dieser ahnt sogleich, daß Gott seine Drohung doch nicht
ausführen werde, und geht soweit in seiner Thorheit, daß er Gott entfliehen
will. Tartessus ist genannt, weil dieser Ort der Endpunkt der hebräischen
Weltkunde im Westen war; um nicht nach Osten gehn zu müssen, sucht er
in den fernen Westen zu fliehn, und scheut sogar das Meer nicht, vor dem
doch die Jsraeliten von jeher ein gewaltiges Grauen hatten. Die Art, wie
Jona an diesem Vorhaben gehindert und zugleich recht nachdrücklich wegen seiner
Verkehrtheit zurechtgewiesen wird, kommt uns allerdings etwas seltsam vor,
aber wir müssen bei der Beurtheilung alter Literaturwerke beständig den Ge¬
schmack und die Ansichten des Volkes vor Augen haben, aus dem jene hervor¬
gegangen sind. Für den Hebräer hatte dieser Aufenthalt im Bauche des Fisches
gar nichts so Auffallendes; er war noch an ganz andre Wunder gewöhnt.
Dazu gewährte dies Seeabcnteuer noch Gelegenheit, den Eindruck des gött¬
lichen Wirkens auf die heidnischen Schiffer lebendig zu veranschaulichen. Die
ganze übrige Entwicklung der Erzählung ergiebt sich von selbst.

Man hat die Geschichte Jona's mehrfach sehr hart beurtheilt; ich kann
mich diesem Tadel nicht anschließen: freilich kommen einige sehr unpassende
Züge vor, wie der, daß auch das Vieh fasten muß und in Trauergewänder
gekleidet wird. Aber im Ganzen ist die Erzählung gewandt, lebendig, anschau¬
lich und eindringlich. Der Charakter des Helden ist sehr natürlich dargelegt.
Der Eigensinn und die Ungeduld des Propheten hätten in den wenigen
Zügen kaum besser dargestellt werden können. Man kann freilich fragen: wie
kam der Verfasser dazu, den Helden zu einem Propheten zu machen? Die Ursache
ist die, daß seine Ansicht von der Aufhebung der göttlichen durch die Propheten
Verkündeten Strafdecrete durch das Auftreten des Propheten am besten der-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/101>, abgerufen am 15.01.2025.