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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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werden. Aus jedem Paragraphen des Strafgesetzbuches aber und aus dem
Munde jedes vorurteilsfreien Rechtspraktikers sieht und hört man, welche Härte
durch diese neue Vorschrift den preußischen Staatsangehörigen droht. Wenn
heute schon über die lange Voruntersuchungshaft immer schwerere Klagen er¬
tönen (man entsinne sich des eben in erster Instanz beendeten Polenprocesses), wie
erweitert sich ihre Last, nun die selbst bei schnellster Rechtspflege nicht abzukürzende
Zeit einer Reihe von Monaten für die Verhandlungen zweiter und dritter
Instanz (zumal bei erneuerten Beweisaufnahmen zweiter Instanz) hinzukommt.
Und noch viel häufiger und schwerer, als die Gebildeten in den Verhältniß-
mäßig immer seltnen Processen politischen Inhalts wird die Masse des großen
Volkes, welche mit Tagarbeit sich und ihre Familien unterhält, von diesem
Drucke getroffen, weil eine große Menge der von gewöhnlichen Leuten vornehm¬
lich begangenen Vergehen, z. B. Beleidigung und Widerstand gegen Beamte
im Amte (§ 102 Se. G. B.), Körperverletzung in ihren verschiedenen Stufen
(§ 187 ff. ebend.) meistens unter den citirten Paragraphen des neuen Entwurfs
fallen. So steht dieser wenig hinter der Strenge des verworfenen Planes von
1851 zurück, fast auf jede strafbare Handlung dehnt er die Untersuchungshaft
aus. gegen politisch Verfolgte bietet er eine treffliche Handhabe, sie ihrer Zeit
und Partei zu entziehen und ihre Agitationen mürbe zu machen. Das Krimi¬
nalgericht der Gegenwart in Theorie und Praxis charakierisirt vor allem milde
Menschlichkeit, in der Untersuchungshaft größtmögliche Beschränkung. Wie
wird der greise Mittermaier in Heidelberg den Kopf schütteln, wenn er am
Ende seiner Tage, die so viele köstliche Denkmale criminalistischer Milde in
deutschen Gesetzen und Gerichten aufführten, diesen Paragraph des neuen
preußischen Strafprozeßentwurfs sieht. Genug seiner Schüler, genug Ver¬
treter des wahren Criminalrechts der Gegenwart sitzen in preußischen Gerichts¬
höfen, lehren auf preußischen Hochschulen, berathen und beschließen im preußischen
Volkshaufe. Sie Alle müssen ihr Nein entgegenwerfen diesem gefährlichen,
weil "richterlichen" Eingriffe in unsre Habeas-Corpus-Acte.

Auch das nächste Alinea desselben Paragraphen verschärft die Criminal-
ordnung. Ist die voraussichtliche oder anerkannte Strafe Zuchthaus oder noch
mehr, so wird die Haft unbedingt. Hierfür fordert die alte Criminalordnung drei
Jahre Gefängniß, läßt indeß selbst in diesem äußersten Falle Befreiungen von
der Haft offen. -- Sehr wenig hilft die letzte, sehr beschränkte Ausnahme des ver-
hängnißvollen Paragraphen des neuen Entwurfs, wonach wegen Uevertretungen
und solcher Vergehen, bei deren Bestrafung auch außer dem Falle der mildern¬
den Umstände von einer Freiheitsstrafe abgesehen werden kann, die Haft nie
blos wegen Gefahr der Verdunklung eintreten soll. Das "abgesehen werden
kann" läßt hier selbst die geringe Ausdehnung dieser Ausnahme und gerade
hinsichts der Vergehen zweifelhaft. Die oben angeführten Hauptfälle z. B.,


werden. Aus jedem Paragraphen des Strafgesetzbuches aber und aus dem
Munde jedes vorurteilsfreien Rechtspraktikers sieht und hört man, welche Härte
durch diese neue Vorschrift den preußischen Staatsangehörigen droht. Wenn
heute schon über die lange Voruntersuchungshaft immer schwerere Klagen er¬
tönen (man entsinne sich des eben in erster Instanz beendeten Polenprocesses), wie
erweitert sich ihre Last, nun die selbst bei schnellster Rechtspflege nicht abzukürzende
Zeit einer Reihe von Monaten für die Verhandlungen zweiter und dritter
Instanz (zumal bei erneuerten Beweisaufnahmen zweiter Instanz) hinzukommt.
Und noch viel häufiger und schwerer, als die Gebildeten in den Verhältniß-
mäßig immer seltnen Processen politischen Inhalts wird die Masse des großen
Volkes, welche mit Tagarbeit sich und ihre Familien unterhält, von diesem
Drucke getroffen, weil eine große Menge der von gewöhnlichen Leuten vornehm¬
lich begangenen Vergehen, z. B. Beleidigung und Widerstand gegen Beamte
im Amte (§ 102 Se. G. B.), Körperverletzung in ihren verschiedenen Stufen
(§ 187 ff. ebend.) meistens unter den citirten Paragraphen des neuen Entwurfs
fallen. So steht dieser wenig hinter der Strenge des verworfenen Planes von
1851 zurück, fast auf jede strafbare Handlung dehnt er die Untersuchungshaft
aus. gegen politisch Verfolgte bietet er eine treffliche Handhabe, sie ihrer Zeit
und Partei zu entziehen und ihre Agitationen mürbe zu machen. Das Krimi¬
nalgericht der Gegenwart in Theorie und Praxis charakierisirt vor allem milde
Menschlichkeit, in der Untersuchungshaft größtmögliche Beschränkung. Wie
wird der greise Mittermaier in Heidelberg den Kopf schütteln, wenn er am
Ende seiner Tage, die so viele köstliche Denkmale criminalistischer Milde in
deutschen Gesetzen und Gerichten aufführten, diesen Paragraph des neuen
preußischen Strafprozeßentwurfs sieht. Genug seiner Schüler, genug Ver¬
treter des wahren Criminalrechts der Gegenwart sitzen in preußischen Gerichts¬
höfen, lehren auf preußischen Hochschulen, berathen und beschließen im preußischen
Volkshaufe. Sie Alle müssen ihr Nein entgegenwerfen diesem gefährlichen,
weil „richterlichen" Eingriffe in unsre Habeas-Corpus-Acte.

Auch das nächste Alinea desselben Paragraphen verschärft die Criminal-
ordnung. Ist die voraussichtliche oder anerkannte Strafe Zuchthaus oder noch
mehr, so wird die Haft unbedingt. Hierfür fordert die alte Criminalordnung drei
Jahre Gefängniß, läßt indeß selbst in diesem äußersten Falle Befreiungen von
der Haft offen. — Sehr wenig hilft die letzte, sehr beschränkte Ausnahme des ver-
hängnißvollen Paragraphen des neuen Entwurfs, wonach wegen Uevertretungen
und solcher Vergehen, bei deren Bestrafung auch außer dem Falle der mildern¬
den Umstände von einer Freiheitsstrafe abgesehen werden kann, die Haft nie
blos wegen Gefahr der Verdunklung eintreten soll. Das „abgesehen werden
kann" läßt hier selbst die geringe Ausdehnung dieser Ausnahme und gerade
hinsichts der Vergehen zweifelhaft. Die oben angeführten Hauptfälle z. B.,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/82>, abgerufen am 12.12.2024.