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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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zog sich gleichzeitig im geistigen Leben ein Umschwung, der die ganze Bildung
der Tiefe wie der Breite nach ergriff. So Plötzlich, so auf einmal das ganze
Geschlecht umfassend war selbst das größte die Welt umgestaltende Princip,' das
Christenthum, nicht hereingebrochen.

Allein nur in die Literatur und Dichtung trat dieser Umschwung, vor¬
bereitet schon durch bahnbrechende Regungen des neuen Geistes innerhalb der
abgelaufenen Zeit, mit neuer schöpferischer Kraft ein. In der Kunst dagegen
war ebenso, wie im staatlichen Dasein, nur erst der Fade" mit den überlieferten
Zuständen abgerissen, dem Alten ein Ende gemacht, ohne daß gleich ein Neues
in bestimmter Gestalt sich zu bilden begonnen hätte. Die moderne Poesie,
darauf gerichtet, dem neuerwachten Leben des inneren, die Welt in sich zurück¬
nehmenden Menschen Ausdruck zu geben, konnte unmittelbar aus diesem schöpfen;
zudem vermag immer die Dichtkunst in dem biegsamen Stoff der Sprache auch
die noch dunklen Vorstellungen des Gesammtgeistes leicht und rasch zu gestalten.
Anders die bildende Kunst. Sie ist an die Bestimmtheit eines spröden Mate¬
rials gebunden, das zu beherrschen sie nur an der Hand der Schule und der
Ueberlieferung lernt; und in ihm kann sie den Inhalt des allgemeinen Be¬
wußtseins immer nur von einer Seite, in eine einzelne Erscheinungsform fassen.
Daher muß dieser Inhalt an sich schon zu einer gewissen Deutlichkeit aus¬
geprägt sein, um sich in einer Form wiederbilden zu lassen, welche die all¬
gemeine Phantasie mit bekannten lebendigen Zügen anspricht. So setzt eine
fruchtbare Entwickelung der Kunst immer zweierlei voraus: einmal die allmälige
Ausbildung der Form an sich im Zusammenhang und Fortschritt der Schule,
andrerseits eine gewisse Festigkeit der allgemeinen Verhältnisse, der öffentlichen
Lebensformen.

An beiden Bedingungen fehlte es natürlich der neuanhebenden Kunst, nach¬
dem sie so bewußt und entschieden, wie keine frühere, die überlieferte Form
und Anschauung abgeworfen hatte. Es blieb ihr nichts übrig, als in der
weiter zurückliegenden Vergangenheit nach Vorbildern zu greifen, an die sie sich
anlehnen könnte, nach mustergiltigen Gestalten, die dem neuen Geiste verwandt
seinen Inhalt auszusprechen vermöchten. Um so leichter machte sich diese Rück¬
kehr zu früheren großen Kunstepochen, als der moderne Geist das Bedürfniß
hatte, seine Existenz auf das Fundament einer die Schätze der Vergangenheit
in sich aufnehmenden Bildung zu gründen. Die geschichtliche Denkweise greift
durch das neunzehnte Jahrhundert und bewährt sich daher auch in der Kunst.
Vor allem fand sich die Architektur auf den Anschluß an die Bauformen
früherer Zeiten angewiesen. Gerade sie, mehr wie jede andere Kunst gebunden
an die Bedingungen des Stoffs und an objective Zwecke, bedarf eines langen
Zeitraums, um den künstlerischen Ausdruck sowohl für diese als für jene in
eigenthümlicher Weise auszubilden. Weder das Eine noch das Andere war in


Grenzboten II. 1805. 14

zog sich gleichzeitig im geistigen Leben ein Umschwung, der die ganze Bildung
der Tiefe wie der Breite nach ergriff. So Plötzlich, so auf einmal das ganze
Geschlecht umfassend war selbst das größte die Welt umgestaltende Princip,' das
Christenthum, nicht hereingebrochen.

Allein nur in die Literatur und Dichtung trat dieser Umschwung, vor¬
bereitet schon durch bahnbrechende Regungen des neuen Geistes innerhalb der
abgelaufenen Zeit, mit neuer schöpferischer Kraft ein. In der Kunst dagegen
war ebenso, wie im staatlichen Dasein, nur erst der Fade» mit den überlieferten
Zuständen abgerissen, dem Alten ein Ende gemacht, ohne daß gleich ein Neues
in bestimmter Gestalt sich zu bilden begonnen hätte. Die moderne Poesie,
darauf gerichtet, dem neuerwachten Leben des inneren, die Welt in sich zurück¬
nehmenden Menschen Ausdruck zu geben, konnte unmittelbar aus diesem schöpfen;
zudem vermag immer die Dichtkunst in dem biegsamen Stoff der Sprache auch
die noch dunklen Vorstellungen des Gesammtgeistes leicht und rasch zu gestalten.
Anders die bildende Kunst. Sie ist an die Bestimmtheit eines spröden Mate¬
rials gebunden, das zu beherrschen sie nur an der Hand der Schule und der
Ueberlieferung lernt; und in ihm kann sie den Inhalt des allgemeinen Be¬
wußtseins immer nur von einer Seite, in eine einzelne Erscheinungsform fassen.
Daher muß dieser Inhalt an sich schon zu einer gewissen Deutlichkeit aus¬
geprägt sein, um sich in einer Form wiederbilden zu lassen, welche die all¬
gemeine Phantasie mit bekannten lebendigen Zügen anspricht. So setzt eine
fruchtbare Entwickelung der Kunst immer zweierlei voraus: einmal die allmälige
Ausbildung der Form an sich im Zusammenhang und Fortschritt der Schule,
andrerseits eine gewisse Festigkeit der allgemeinen Verhältnisse, der öffentlichen
Lebensformen.

An beiden Bedingungen fehlte es natürlich der neuanhebenden Kunst, nach¬
dem sie so bewußt und entschieden, wie keine frühere, die überlieferte Form
und Anschauung abgeworfen hatte. Es blieb ihr nichts übrig, als in der
weiter zurückliegenden Vergangenheit nach Vorbildern zu greifen, an die sie sich
anlehnen könnte, nach mustergiltigen Gestalten, die dem neuen Geiste verwandt
seinen Inhalt auszusprechen vermöchten. Um so leichter machte sich diese Rück¬
kehr zu früheren großen Kunstepochen, als der moderne Geist das Bedürfniß
hatte, seine Existenz auf das Fundament einer die Schätze der Vergangenheit
in sich aufnehmenden Bildung zu gründen. Die geschichtliche Denkweise greift
durch das neunzehnte Jahrhundert und bewährt sich daher auch in der Kunst.
Vor allem fand sich die Architektur auf den Anschluß an die Bauformen
früherer Zeiten angewiesen. Gerade sie, mehr wie jede andere Kunst gebunden
an die Bedingungen des Stoffs und an objective Zwecke, bedarf eines langen
Zeitraums, um den künstlerischen Ausdruck sowohl für diese als für jene in
eigenthümlicher Weise auszubilden. Weder das Eine noch das Andere war in


Grenzboten II. 1805. 14
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/115>, abgerufen am 12.12.2024.