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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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erhielte, wenn er durch eigene Arbeit und ernstes Studium den Zwang dieser
Einflüsse überwunden und sich so zugleich die Bedingungen und Mittel für seine
eigene Kunstübung erworben hätte.

Denn die entwickelte Formenwelt, welche in den guten Denkmälern classischer
Zeiten erhalten, auch auf das heutige Auge noch den alten Zauber ausübt, ist
nicht mehr der bloße Ausdruck einer bedingten Lebcnsanschauuiig und eines
besonderen Zeitinhnltcs. Sie ist "die Gestalt, welche frei von jeder Zeitgcwalt
die Gespielin seliger Natur ist." Nur dann vermochte die Kunst diesen ewig
schönen Leib zu schaffen, wenn sie im Bilde des bestimmten Lebens, das sie
darzustellen hatte, die beschränkten Züge hinter die allgemein menschlichen zurück¬
drängte und so ein Werk hervorbrachte, das die Zeit über sich selbst hinaushob
und ihren Gestalten die blühende Jugend eines unvergänglichen Daseins gab.
Die vollendete Kunst mit einem Wort befreit die Phantasie des Zeitalters von
der Schranke des Tages und der Einmischung stofflicher Interessen und unreiner
Empfindungen; wie sie ihren Schöpfungen die Selbständigkeit der nur aus sich
beseelten Erscheinung giebt, so prägt sie zugleich die Form zu einem selbständigen,
für alle Zeiten mustergiltige" Dasein aus. Sowohl die Aphrodite" des Praxi¬
teles als Raphaels Madonnen haben sich für uns ihres göttlichen Nimbus be¬
geben: aber beide haben das Ideal des schönen Weibes gestaltet und indem der
eine über die enthüllte Form die verklärte Sinnlichkeit des Heidenthums aus¬
goß, der andere im Angesicht den Liebreiz seelenvoller Innerlichkeit ausschloß,
hat jeder in seiner Art ein Bild des Weibes geschaffen, dessen Züge in der
menschlichen Phantasie selber liegen, und das ihr nun in ewig giltiger Vollendung
gegenübersteht.

Nicht also um in ihren Vorj)elln"gskrcis sich einzuleben, oder ihre Ge¬
stalten nachzubilden, soll sich der Künstler an die Meisterwerke vergangener
Zeiten halten; sondern um in ihrer Schule seine" Formensinn zu bilden
und sich die Handhabung der künstlerischen Mittel zu erwerben, in deren BesH
allein er was ihn bewegt zu lebendiger Erscheinung und ausdrucksvoller
Schönheit ,zu bringen vermag. Dabei soll er um so weniger das Studium
der Natur aufgeben, als er auch diese kennen und verstehen muß, wenn er
an jenen Vorbildern lernen will, wie sie die Natur angeschaut und gestaltet
haben. Eines freilich ist unerläßliche Bedingung, falls er die überlieferte"
Formen zu seinen Zwecken frei gebrauchen soll: daß er sie sich gründlich zu
eigen gemacht habe und bis zu einem gewissen Grade beherrsche. Mit einem
Absehen von Kunstgriffen und Handfertigkeiten, mit dem Schein einer ober¬
flächlichen Sicherheit ist es nicht gethan, so wenig wie mit der bloßen Ge-
schicklichkeit, welche mit täuschender Hand nicht sowohl die Form als den Cha-
rakter und Ausdruck einer vergangenen Kunst, gleichsam ihren eigenthümlichen
Hauch wiederzugeben sucht. Vielmehr handelt es sich darum, den innern Zu-
'


Grenzboten I. 186ö. 12

erhielte, wenn er durch eigene Arbeit und ernstes Studium den Zwang dieser
Einflüsse überwunden und sich so zugleich die Bedingungen und Mittel für seine
eigene Kunstübung erworben hätte.

Denn die entwickelte Formenwelt, welche in den guten Denkmälern classischer
Zeiten erhalten, auch auf das heutige Auge noch den alten Zauber ausübt, ist
nicht mehr der bloße Ausdruck einer bedingten Lebcnsanschauuiig und eines
besonderen Zeitinhnltcs. Sie ist „die Gestalt, welche frei von jeder Zeitgcwalt
die Gespielin seliger Natur ist." Nur dann vermochte die Kunst diesen ewig
schönen Leib zu schaffen, wenn sie im Bilde des bestimmten Lebens, das sie
darzustellen hatte, die beschränkten Züge hinter die allgemein menschlichen zurück¬
drängte und so ein Werk hervorbrachte, das die Zeit über sich selbst hinaushob
und ihren Gestalten die blühende Jugend eines unvergänglichen Daseins gab.
Die vollendete Kunst mit einem Wort befreit die Phantasie des Zeitalters von
der Schranke des Tages und der Einmischung stofflicher Interessen und unreiner
Empfindungen; wie sie ihren Schöpfungen die Selbständigkeit der nur aus sich
beseelten Erscheinung giebt, so prägt sie zugleich die Form zu einem selbständigen,
für alle Zeiten mustergiltige» Dasein aus. Sowohl die Aphrodite» des Praxi¬
teles als Raphaels Madonnen haben sich für uns ihres göttlichen Nimbus be¬
geben: aber beide haben das Ideal des schönen Weibes gestaltet und indem der
eine über die enthüllte Form die verklärte Sinnlichkeit des Heidenthums aus¬
goß, der andere im Angesicht den Liebreiz seelenvoller Innerlichkeit ausschloß,
hat jeder in seiner Art ein Bild des Weibes geschaffen, dessen Züge in der
menschlichen Phantasie selber liegen, und das ihr nun in ewig giltiger Vollendung
gegenübersteht.

Nicht also um in ihren Vorj)elln»gskrcis sich einzuleben, oder ihre Ge¬
stalten nachzubilden, soll sich der Künstler an die Meisterwerke vergangener
Zeiten halten; sondern um in ihrer Schule seine» Formensinn zu bilden
und sich die Handhabung der künstlerischen Mittel zu erwerben, in deren BesH
allein er was ihn bewegt zu lebendiger Erscheinung und ausdrucksvoller
Schönheit ,zu bringen vermag. Dabei soll er um so weniger das Studium
der Natur aufgeben, als er auch diese kennen und verstehen muß, wenn er
an jenen Vorbildern lernen will, wie sie die Natur angeschaut und gestaltet
haben. Eines freilich ist unerläßliche Bedingung, falls er die überlieferte»
Formen zu seinen Zwecken frei gebrauchen soll: daß er sie sich gründlich zu
eigen gemacht habe und bis zu einem gewissen Grade beherrsche. Mit einem
Absehen von Kunstgriffen und Handfertigkeiten, mit dem Schein einer ober¬
flächlichen Sicherheit ist es nicht gethan, so wenig wie mit der bloßen Ge-
schicklichkeit, welche mit täuschender Hand nicht sowohl die Form als den Cha-
rakter und Ausdruck einer vergangenen Kunst, gleichsam ihren eigenthümlichen
Hauch wiederzugeben sucht. Vielmehr handelt es sich darum, den innern Zu-
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Grenzboten I. 186ö. 12
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[0099] erhielte, wenn er durch eigene Arbeit und ernstes Studium den Zwang dieser Einflüsse überwunden und sich so zugleich die Bedingungen und Mittel für seine eigene Kunstübung erworben hätte. Denn die entwickelte Formenwelt, welche in den guten Denkmälern classischer Zeiten erhalten, auch auf das heutige Auge noch den alten Zauber ausübt, ist nicht mehr der bloße Ausdruck einer bedingten Lebcnsanschauuiig und eines besonderen Zeitinhnltcs. Sie ist „die Gestalt, welche frei von jeder Zeitgcwalt die Gespielin seliger Natur ist." Nur dann vermochte die Kunst diesen ewig schönen Leib zu schaffen, wenn sie im Bilde des bestimmten Lebens, das sie darzustellen hatte, die beschränkten Züge hinter die allgemein menschlichen zurück¬ drängte und so ein Werk hervorbrachte, das die Zeit über sich selbst hinaushob und ihren Gestalten die blühende Jugend eines unvergänglichen Daseins gab. Die vollendete Kunst mit einem Wort befreit die Phantasie des Zeitalters von der Schranke des Tages und der Einmischung stofflicher Interessen und unreiner Empfindungen; wie sie ihren Schöpfungen die Selbständigkeit der nur aus sich beseelten Erscheinung giebt, so prägt sie zugleich die Form zu einem selbständigen, für alle Zeiten mustergiltige» Dasein aus. Sowohl die Aphrodite» des Praxi¬ teles als Raphaels Madonnen haben sich für uns ihres göttlichen Nimbus be¬ geben: aber beide haben das Ideal des schönen Weibes gestaltet und indem der eine über die enthüllte Form die verklärte Sinnlichkeit des Heidenthums aus¬ goß, der andere im Angesicht den Liebreiz seelenvoller Innerlichkeit ausschloß, hat jeder in seiner Art ein Bild des Weibes geschaffen, dessen Züge in der menschlichen Phantasie selber liegen, und das ihr nun in ewig giltiger Vollendung gegenübersteht. Nicht also um in ihren Vorj)elln»gskrcis sich einzuleben, oder ihre Ge¬ stalten nachzubilden, soll sich der Künstler an die Meisterwerke vergangener Zeiten halten; sondern um in ihrer Schule seine» Formensinn zu bilden und sich die Handhabung der künstlerischen Mittel zu erwerben, in deren BesH allein er was ihn bewegt zu lebendiger Erscheinung und ausdrucksvoller Schönheit ,zu bringen vermag. Dabei soll er um so weniger das Studium der Natur aufgeben, als er auch diese kennen und verstehen muß, wenn er an jenen Vorbildern lernen will, wie sie die Natur angeschaut und gestaltet haben. Eines freilich ist unerläßliche Bedingung, falls er die überlieferte» Formen zu seinen Zwecken frei gebrauchen soll: daß er sie sich gründlich zu eigen gemacht habe und bis zu einem gewissen Grade beherrsche. Mit einem Absehen von Kunstgriffen und Handfertigkeiten, mit dem Schein einer ober¬ flächlichen Sicherheit ist es nicht gethan, so wenig wie mit der bloßen Ge- schicklichkeit, welche mit täuschender Hand nicht sowohl die Form als den Cha- rakter und Ausdruck einer vergangenen Kunst, gleichsam ihren eigenthümlichen Hauch wiederzugeben sucht. Vielmehr handelt es sich darum, den innern Zu- ' Grenzboten I. 186ö. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/99>, abgerufen am 23.07.2024.