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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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sam aus der Vermählung der Natur mit dem menschlichen Geiste hervorgegangen,
die eigentliche Heimath des Künstlers ist. Im Verkehr mit ihren Gestalten wird
ihm der dunkle Inhalt seiner eigenen Seele lebendig und ringt sich allmälig
zu klarer, geordneter Erscheinung an den Tag. Sie überliefert ihm die unver¬
gänglichen Gesetze, nach denen er, was im inneren Bilde ihm vorschwebt, leicht
und sicher zu gestalten vermag; sie zeigt ihm, wie er die Natur zu fassen hat,
um sie zum vollen Ausdruck des Wesens zu bringen, das er in ihr entdeckt
oder in sie hineinlegt. Sie offenbart ihm, wie im Bilde die flüchtige Bewegung
des Lebens greifbar sich ausprägt und doch wieder mit bald sanftem, bald nach,
eigen Zuge fortzufließen scheint, sie endlich enthüllt ihm auch in der gebrochenen
und getrübten Erscheinung die Schönheit.

Was Jahrhunderte vor ihm gethan und glücklich errungen haben, das sollte
er, ein Kind seiner Zeit, die selber auf den Schultern der Vergangenheit ruht,
als fremd von sich abweisen, um aus eigenen Kräften die Arbeit ganzer Ge¬
schlechter aufs Neue vorzunehmen? wozu es des Kreislaufs ganzer Epochen be¬
dürfte, vom Zwang der Natur uns loszulösen und ihre Erscheinung zur ge¬
läuterten Hülle des Geistes umzubilden, auf eigene Faust vollbringen? Er sollte
aus eigenen Mitteln leisten können, was bevorzugte Zeiten unter günstigen Ver¬
hältnissen, in einer Natur, die mit dem ungebrochenen Schwung ihrer Formen
der Phantasie entgegenkam, und nur durch eine ganze Kette schöpferischer Kräfte
allmälig zu Staude brachten? Doch, auch wenn er durchaus selbständig sein und
lediglich aus sich und der Natur die Formen seiner Darstellung holen wollte:
er könnte es nicht. Mehr als jeder frühere findet sich der moderne Künstler
in einem Bildungskreise, der nicht blos den ganzen Inhalt der Vergangenheit,
sondern auch einen großen Theil ihrer Anschauungen in sich aufgenommen und
die Arbeit früherer Zeiten als das Erbe angetreten hat, von dessen richtigem
Gebrauch der Erfolg seiner eigenen Wirthschaft abhängt. Auf der Bildung
beruht ja die Macht und die Eigenthümlichkeit des Jahrhunderts. Durch ihre -
Verbreitung liegen mehr als je die Vorstellungen verflossener Zeiten in der
Luft, ihren Einflüssen kann sich auch die selbständigste Kraft nicht entziehen.
Der die Natur und die Welt nur mit eigenen Augen zu sehen glaubt, merkt
nicht, daß schon sein Auge eine ihm überlieferte Anschauung mitbringt. Willen¬
los und unbewußt unterliegt er so den Eindrücken der mit fremden Elementen
geschwängerten Zeit und seine Phantasie, statt, wie er meint, ein reiner Spiegel
zu sein, den er der Natur, um ihr Bild zu empfangen, nur vorzuhalten brauche,
ist vielmehr eine von unfertigen und verworrenen Gestalten angehauchte und
blind gewordene Scheibe, welche die Wirklichkeit nur falsch und trüb reflectiren
kann. Statt also frei zu sein, ist er vielmehr den zufälligen Wirkungen einer
halben und verschwommenen Bildung unterworfen, die ohne sein Zuthun über
thu gekommen ist: während doch seine Phantasie ihre volle Freiheit zurück-


sam aus der Vermählung der Natur mit dem menschlichen Geiste hervorgegangen,
die eigentliche Heimath des Künstlers ist. Im Verkehr mit ihren Gestalten wird
ihm der dunkle Inhalt seiner eigenen Seele lebendig und ringt sich allmälig
zu klarer, geordneter Erscheinung an den Tag. Sie überliefert ihm die unver¬
gänglichen Gesetze, nach denen er, was im inneren Bilde ihm vorschwebt, leicht
und sicher zu gestalten vermag; sie zeigt ihm, wie er die Natur zu fassen hat,
um sie zum vollen Ausdruck des Wesens zu bringen, das er in ihr entdeckt
oder in sie hineinlegt. Sie offenbart ihm, wie im Bilde die flüchtige Bewegung
des Lebens greifbar sich ausprägt und doch wieder mit bald sanftem, bald nach,
eigen Zuge fortzufließen scheint, sie endlich enthüllt ihm auch in der gebrochenen
und getrübten Erscheinung die Schönheit.

Was Jahrhunderte vor ihm gethan und glücklich errungen haben, das sollte
er, ein Kind seiner Zeit, die selber auf den Schultern der Vergangenheit ruht,
als fremd von sich abweisen, um aus eigenen Kräften die Arbeit ganzer Ge¬
schlechter aufs Neue vorzunehmen? wozu es des Kreislaufs ganzer Epochen be¬
dürfte, vom Zwang der Natur uns loszulösen und ihre Erscheinung zur ge¬
läuterten Hülle des Geistes umzubilden, auf eigene Faust vollbringen? Er sollte
aus eigenen Mitteln leisten können, was bevorzugte Zeiten unter günstigen Ver¬
hältnissen, in einer Natur, die mit dem ungebrochenen Schwung ihrer Formen
der Phantasie entgegenkam, und nur durch eine ganze Kette schöpferischer Kräfte
allmälig zu Staude brachten? Doch, auch wenn er durchaus selbständig sein und
lediglich aus sich und der Natur die Formen seiner Darstellung holen wollte:
er könnte es nicht. Mehr als jeder frühere findet sich der moderne Künstler
in einem Bildungskreise, der nicht blos den ganzen Inhalt der Vergangenheit,
sondern auch einen großen Theil ihrer Anschauungen in sich aufgenommen und
die Arbeit früherer Zeiten als das Erbe angetreten hat, von dessen richtigem
Gebrauch der Erfolg seiner eigenen Wirthschaft abhängt. Auf der Bildung
beruht ja die Macht und die Eigenthümlichkeit des Jahrhunderts. Durch ihre -
Verbreitung liegen mehr als je die Vorstellungen verflossener Zeiten in der
Luft, ihren Einflüssen kann sich auch die selbständigste Kraft nicht entziehen.
Der die Natur und die Welt nur mit eigenen Augen zu sehen glaubt, merkt
nicht, daß schon sein Auge eine ihm überlieferte Anschauung mitbringt. Willen¬
los und unbewußt unterliegt er so den Eindrücken der mit fremden Elementen
geschwängerten Zeit und seine Phantasie, statt, wie er meint, ein reiner Spiegel
zu sein, den er der Natur, um ihr Bild zu empfangen, nur vorzuhalten brauche,
ist vielmehr eine von unfertigen und verworrenen Gestalten angehauchte und
blind gewordene Scheibe, welche die Wirklichkeit nur falsch und trüb reflectiren
kann. Statt also frei zu sein, ist er vielmehr den zufälligen Wirkungen einer
halben und verschwommenen Bildung unterworfen, die ohne sein Zuthun über
thu gekommen ist: während doch seine Phantasie ihre volle Freiheit zurück-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/98>, abgerufen am 23.07.2024.