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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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rente Wiederholung der großen structiven Formen im Kleinen, halb organisch,
halb geometrisch und daher keines von beiden ist. das zudem losgelöst von der
streng gemessenen und doch phantastischen Pracht des Kirchcnstils unvermittelt
an der Mauer klebt. Dagegen ist selbst noch in dem Reichthum der Spät¬
renaissance das sichtbare Maß einer gesetzlichen Ordnung und Gliederung;
wenn sie auch in dem überquellenden Gestaltungstrieb der ganzen Maucr-
fläche den Schein bewegter Schönheit zu geben, structive Forme" verschwenderisch
wie Ornamente gebrauchte, so ist dieser Ueberfluß noch lange kein Beweis, daß
eS dem Stile, wie man Wohl behaupten hört, an einem einheitlichen und strengen
Gesetz des Aufbaues gebreche. Doch von dem Werthe und der Entwicklungs¬
fähigkeit desselben auch für die Bedürfnisse deö heutigen Lebens war in diesen
Blättern schon bei Gelegenheit der Münchener Ausstellung von 1863 die Rede.
Hier sollte uns diese Bauart nur zeigen, wie ein späteres selbst schöpferisches
Zeitalter die Formen der Antike aufnahm und sie mit Verständniß und künstle¬
rischer Freiheit zugleich zu gebrauchen wußte, um in den Combinationen der¬
selben zu neuen Bildungen seine Zwecke zu erfüllen und seine Phantasie
auszuprägen. Und nicht blos für sich, auch für die Gegenwart liefert jener
Stil den Beweis, daß die spätere Zeit, indem sie die entwickelte Kunst einer
früheren zu ihrer Grundlage macht, weit entfernt, sich in ein todtes Spiel der
Nachahmung zu verlieren, vielmehr eine neue lebensfähige Kunst hervorzu¬
bringen vermag: denn die besten deutschen und französischen Architekten dieser
Tage haben es durch die That bewiese", baß unser Jahrhundert in diesem Stile
seine schönsten Bauwerke, solche zugleich, welche seine Eigenthümlichkeit am klar¬
sten aussprechen, zu schaffen vermag.

Die Furcht, durch das Studium der mustergiltigen .Kunst an der Selb¬
ständigkeit, sei es der allgemeinen Zcitanschauung oder der individuellen Phan¬
tasie, Schaden zu nehmen, zeugt von einem groben Mißverständniß, mag dieses
nun aus der Enge künstlerischer Einsicht oder aus träger Scheu vor der An¬
strengung herrühren. Nicht darum handelt eS sich ja, die Auffassung eines ver¬
gangenen Lebens, den Borsteliungskreis eines ausgelebten Bewußtseins sich an¬
zueignen. Sondern die Art, wie die früheren großen Kunstepochen auf dem
Gipfel ihrer Entwicklung die Erscheinung der Natur, befreit von, Zwang und
der Noth zufälliger Wirklichkeit, zur schönen, vollendet künstlerischen Gestalt
umgeschaffen haben: daran soll die jüngere Kunst sich bilden. Die Welt der
Forme", in welcher die Natur mit dem vollen Auodruck ihrer schöpferischen
Freiheit, dem ""verkümmerten Gebrauch ihrer Kräfte, gleichsam in einer glück¬
lichen Stunde, festgehalten und durch eine gereiste künstlerische Anschauung zu
einem neuen idealen Dasein wiedergeboren ist- das ist und bleibt das unver¬
gängliche Borbild des später kommenden Künstlers. Diese Formenwelt bildet
eine zweite zum reinen Schein des Daseins geklärte Wirklichkeit, welche, gleich-


rente Wiederholung der großen structiven Formen im Kleinen, halb organisch,
halb geometrisch und daher keines von beiden ist. das zudem losgelöst von der
streng gemessenen und doch phantastischen Pracht des Kirchcnstils unvermittelt
an der Mauer klebt. Dagegen ist selbst noch in dem Reichthum der Spät¬
renaissance das sichtbare Maß einer gesetzlichen Ordnung und Gliederung;
wenn sie auch in dem überquellenden Gestaltungstrieb der ganzen Maucr-
fläche den Schein bewegter Schönheit zu geben, structive Forme» verschwenderisch
wie Ornamente gebrauchte, so ist dieser Ueberfluß noch lange kein Beweis, daß
eS dem Stile, wie man Wohl behaupten hört, an einem einheitlichen und strengen
Gesetz des Aufbaues gebreche. Doch von dem Werthe und der Entwicklungs¬
fähigkeit desselben auch für die Bedürfnisse deö heutigen Lebens war in diesen
Blättern schon bei Gelegenheit der Münchener Ausstellung von 1863 die Rede.
Hier sollte uns diese Bauart nur zeigen, wie ein späteres selbst schöpferisches
Zeitalter die Formen der Antike aufnahm und sie mit Verständniß und künstle¬
rischer Freiheit zugleich zu gebrauchen wußte, um in den Combinationen der¬
selben zu neuen Bildungen seine Zwecke zu erfüllen und seine Phantasie
auszuprägen. Und nicht blos für sich, auch für die Gegenwart liefert jener
Stil den Beweis, daß die spätere Zeit, indem sie die entwickelte Kunst einer
früheren zu ihrer Grundlage macht, weit entfernt, sich in ein todtes Spiel der
Nachahmung zu verlieren, vielmehr eine neue lebensfähige Kunst hervorzu¬
bringen vermag: denn die besten deutschen und französischen Architekten dieser
Tage haben es durch die That bewiese», baß unser Jahrhundert in diesem Stile
seine schönsten Bauwerke, solche zugleich, welche seine Eigenthümlichkeit am klar¬
sten aussprechen, zu schaffen vermag.

Die Furcht, durch das Studium der mustergiltigen .Kunst an der Selb¬
ständigkeit, sei es der allgemeinen Zcitanschauung oder der individuellen Phan¬
tasie, Schaden zu nehmen, zeugt von einem groben Mißverständniß, mag dieses
nun aus der Enge künstlerischer Einsicht oder aus träger Scheu vor der An¬
strengung herrühren. Nicht darum handelt eS sich ja, die Auffassung eines ver¬
gangenen Lebens, den Borsteliungskreis eines ausgelebten Bewußtseins sich an¬
zueignen. Sondern die Art, wie die früheren großen Kunstepochen auf dem
Gipfel ihrer Entwicklung die Erscheinung der Natur, befreit von, Zwang und
der Noth zufälliger Wirklichkeit, zur schönen, vollendet künstlerischen Gestalt
umgeschaffen haben: daran soll die jüngere Kunst sich bilden. Die Welt der
Forme», in welcher die Natur mit dem vollen Auodruck ihrer schöpferischen
Freiheit, dem »»verkümmerten Gebrauch ihrer Kräfte, gleichsam in einer glück¬
lichen Stunde, festgehalten und durch eine gereiste künstlerische Anschauung zu
einem neuen idealen Dasein wiedergeboren ist- das ist und bleibt das unver¬
gängliche Borbild des später kommenden Künstlers. Diese Formenwelt bildet
eine zweite zum reinen Schein des Daseins geklärte Wirklichkeit, welche, gleich-


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[0097] rente Wiederholung der großen structiven Formen im Kleinen, halb organisch, halb geometrisch und daher keines von beiden ist. das zudem losgelöst von der streng gemessenen und doch phantastischen Pracht des Kirchcnstils unvermittelt an der Mauer klebt. Dagegen ist selbst noch in dem Reichthum der Spät¬ renaissance das sichtbare Maß einer gesetzlichen Ordnung und Gliederung; wenn sie auch in dem überquellenden Gestaltungstrieb der ganzen Maucr- fläche den Schein bewegter Schönheit zu geben, structive Forme» verschwenderisch wie Ornamente gebrauchte, so ist dieser Ueberfluß noch lange kein Beweis, daß eS dem Stile, wie man Wohl behaupten hört, an einem einheitlichen und strengen Gesetz des Aufbaues gebreche. Doch von dem Werthe und der Entwicklungs¬ fähigkeit desselben auch für die Bedürfnisse deö heutigen Lebens war in diesen Blättern schon bei Gelegenheit der Münchener Ausstellung von 1863 die Rede. Hier sollte uns diese Bauart nur zeigen, wie ein späteres selbst schöpferisches Zeitalter die Formen der Antike aufnahm und sie mit Verständniß und künstle¬ rischer Freiheit zugleich zu gebrauchen wußte, um in den Combinationen der¬ selben zu neuen Bildungen seine Zwecke zu erfüllen und seine Phantasie auszuprägen. Und nicht blos für sich, auch für die Gegenwart liefert jener Stil den Beweis, daß die spätere Zeit, indem sie die entwickelte Kunst einer früheren zu ihrer Grundlage macht, weit entfernt, sich in ein todtes Spiel der Nachahmung zu verlieren, vielmehr eine neue lebensfähige Kunst hervorzu¬ bringen vermag: denn die besten deutschen und französischen Architekten dieser Tage haben es durch die That bewiese», baß unser Jahrhundert in diesem Stile seine schönsten Bauwerke, solche zugleich, welche seine Eigenthümlichkeit am klar¬ sten aussprechen, zu schaffen vermag. Die Furcht, durch das Studium der mustergiltigen .Kunst an der Selb¬ ständigkeit, sei es der allgemeinen Zcitanschauung oder der individuellen Phan¬ tasie, Schaden zu nehmen, zeugt von einem groben Mißverständniß, mag dieses nun aus der Enge künstlerischer Einsicht oder aus träger Scheu vor der An¬ strengung herrühren. Nicht darum handelt eS sich ja, die Auffassung eines ver¬ gangenen Lebens, den Borsteliungskreis eines ausgelebten Bewußtseins sich an¬ zueignen. Sondern die Art, wie die früheren großen Kunstepochen auf dem Gipfel ihrer Entwicklung die Erscheinung der Natur, befreit von, Zwang und der Noth zufälliger Wirklichkeit, zur schönen, vollendet künstlerischen Gestalt umgeschaffen haben: daran soll die jüngere Kunst sich bilden. Die Welt der Forme», in welcher die Natur mit dem vollen Auodruck ihrer schöpferischen Freiheit, dem »»verkümmerten Gebrauch ihrer Kräfte, gleichsam in einer glück¬ lichen Stunde, festgehalten und durch eine gereiste künstlerische Anschauung zu einem neuen idealen Dasein wiedergeboren ist- das ist und bleibt das unver¬ gängliche Borbild des später kommenden Künstlers. Diese Formenwelt bildet eine zweite zum reinen Schein des Daseins geklärte Wirklichkeit, welche, gleich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/97>, abgerufen am 23.07.2024.