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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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in bestimmten Anschauungen und Gebräuchen ^des Cultus, aus diesen heraus¬
wächst sein Grundplan, der in der Tempelcella einen abgeschlossenen Raum als
Wohnung der Gottheit und einen geöffneten Raum zur Vermittlung des Aller-
heiligsten mit der Außenwelt in den Säulenhallen erheischt. Vom Boden empor
aber wächst ein System von tragenden und getragenen, schwebenden und decken¬
den Gliedern, alle nicht blos ihrem Einzelzweck entsprechend, sondern auf das
Innigste aus einander berechnet und untereinander verbunden durch eine Anzahl
feinerer Glieder, die bald eine engere Verknüpfung, bald einen Conflict zwischen
zwei entgegengesetzten Functionen zum Ausdruck bringen; wie z. B. das Kapitell
der Säule den Widerstreit des mit seinen senkrechten Kanälen aufwärts streben¬
den Säulenstammes und des darauf lMenden, zur Aufnahme der Decke wie
des Daches dienenden Gebälkes darstellt. Diese Bedeutung der so wichtigen
Zwischenglieder anschaulicher zu machen hilft das Ornament, weiches sich be¬
sonders gern farbiger Zeichnung bedient, um an eine bezeichnende Analogie der
allen bekannten Natur zu erinnern. So weisen die Kannelüren der Säule auf
die Rippen eines aufschießenden Stengels, jenes unter dem irreleitenden Na¬
men des Eierstabes bekannte Ornament auf die durch einen Druck von oben
umgebogenen aber doch noch elastisch widerstrebenden Blätter hin; ein bald
eckig, bald rund gewundenes Muster (wie in den Verzierungen ^ 1a grse^ne)
aus ein Riemen- oder Bandgcflecht, welches bald zu festem Umschnüren ge¬
braucht, bald schwebend in der Höhe über dem freien Raum ausgespannt werden
kann. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn wir sagen, daß der Einblick in
den Organismus des hellenischen Tempels uns verschlossen war, ehe die "Te¬
ktonik der Hellenen" erschien. Dasselbe Kunstgefühl aber, welches hier die Form
nur als den congruentem Ausdruck des Wesens gestaltete, durchdringt auch alle
andern Zweige der Kunst. --

In der Sculptur ist wiederum die Bereicherung des Stoffes ebenso unend¬
lich als die Fülle der daraus für die Wissenschaft neu erwachsenden Aufgaben.
Auf die Statue" vom Parthenon und von Aigina, wie auf die Reliefs von
Bashal ward schon hingewiesen, auch die sicilischen Tempel lieferten bedeutende
Ausbeute; aus der reichen Masse der übrigen Werke möge nur eines der
schönsten, die Aphrodite von Melos. und zwei der neusten Funde Erwähnung
finden, die Entdeckung der für die älteste wie für die spätere Zeit gleich wich¬
tigen Sculpturen Lykiens durch den Kohlenhändler Ch. Fellows, und die Aus¬
grabung des Maussolleions in Halikarnasos. Dieselbe Frage nach der Poly-
chromie, welche wir oben bei der Architektur erwähnten, ist durch die neuen
Entdeckungen auch für die Sculptur besonders nahe gelegt. Es treten nämlich
an manchen jener Marmorwerke unzweifelhafte Reste von Malerei hervor, ja
in einigen der Selinuntischen Reliefs finden wir gar die nackten Körpertheile aus
Marmor, den Rest aus bunt bemaltem Kalktuff gebildet. Dies kann nicht auf-


in bestimmten Anschauungen und Gebräuchen ^des Cultus, aus diesen heraus¬
wächst sein Grundplan, der in der Tempelcella einen abgeschlossenen Raum als
Wohnung der Gottheit und einen geöffneten Raum zur Vermittlung des Aller-
heiligsten mit der Außenwelt in den Säulenhallen erheischt. Vom Boden empor
aber wächst ein System von tragenden und getragenen, schwebenden und decken¬
den Gliedern, alle nicht blos ihrem Einzelzweck entsprechend, sondern auf das
Innigste aus einander berechnet und untereinander verbunden durch eine Anzahl
feinerer Glieder, die bald eine engere Verknüpfung, bald einen Conflict zwischen
zwei entgegengesetzten Functionen zum Ausdruck bringen; wie z. B. das Kapitell
der Säule den Widerstreit des mit seinen senkrechten Kanälen aufwärts streben¬
den Säulenstammes und des darauf lMenden, zur Aufnahme der Decke wie
des Daches dienenden Gebälkes darstellt. Diese Bedeutung der so wichtigen
Zwischenglieder anschaulicher zu machen hilft das Ornament, weiches sich be¬
sonders gern farbiger Zeichnung bedient, um an eine bezeichnende Analogie der
allen bekannten Natur zu erinnern. So weisen die Kannelüren der Säule auf
die Rippen eines aufschießenden Stengels, jenes unter dem irreleitenden Na¬
men des Eierstabes bekannte Ornament auf die durch einen Druck von oben
umgebogenen aber doch noch elastisch widerstrebenden Blätter hin; ein bald
eckig, bald rund gewundenes Muster (wie in den Verzierungen ^ 1a grse^ne)
aus ein Riemen- oder Bandgcflecht, welches bald zu festem Umschnüren ge¬
braucht, bald schwebend in der Höhe über dem freien Raum ausgespannt werden
kann. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn wir sagen, daß der Einblick in
den Organismus des hellenischen Tempels uns verschlossen war, ehe die „Te¬
ktonik der Hellenen" erschien. Dasselbe Kunstgefühl aber, welches hier die Form
nur als den congruentem Ausdruck des Wesens gestaltete, durchdringt auch alle
andern Zweige der Kunst. —

In der Sculptur ist wiederum die Bereicherung des Stoffes ebenso unend¬
lich als die Fülle der daraus für die Wissenschaft neu erwachsenden Aufgaben.
Auf die Statue» vom Parthenon und von Aigina, wie auf die Reliefs von
Bashal ward schon hingewiesen, auch die sicilischen Tempel lieferten bedeutende
Ausbeute; aus der reichen Masse der übrigen Werke möge nur eines der
schönsten, die Aphrodite von Melos. und zwei der neusten Funde Erwähnung
finden, die Entdeckung der für die älteste wie für die spätere Zeit gleich wich¬
tigen Sculpturen Lykiens durch den Kohlenhändler Ch. Fellows, und die Aus¬
grabung des Maussolleions in Halikarnasos. Dieselbe Frage nach der Poly-
chromie, welche wir oben bei der Architektur erwähnten, ist durch die neuen
Entdeckungen auch für die Sculptur besonders nahe gelegt. Es treten nämlich
an manchen jener Marmorwerke unzweifelhafte Reste von Malerei hervor, ja
in einigen der Selinuntischen Reliefs finden wir gar die nackten Körpertheile aus
Marmor, den Rest aus bunt bemaltem Kalktuff gebildet. Dies kann nicht auf-


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[0061] in bestimmten Anschauungen und Gebräuchen ^des Cultus, aus diesen heraus¬ wächst sein Grundplan, der in der Tempelcella einen abgeschlossenen Raum als Wohnung der Gottheit und einen geöffneten Raum zur Vermittlung des Aller- heiligsten mit der Außenwelt in den Säulenhallen erheischt. Vom Boden empor aber wächst ein System von tragenden und getragenen, schwebenden und decken¬ den Gliedern, alle nicht blos ihrem Einzelzweck entsprechend, sondern auf das Innigste aus einander berechnet und untereinander verbunden durch eine Anzahl feinerer Glieder, die bald eine engere Verknüpfung, bald einen Conflict zwischen zwei entgegengesetzten Functionen zum Ausdruck bringen; wie z. B. das Kapitell der Säule den Widerstreit des mit seinen senkrechten Kanälen aufwärts streben¬ den Säulenstammes und des darauf lMenden, zur Aufnahme der Decke wie des Daches dienenden Gebälkes darstellt. Diese Bedeutung der so wichtigen Zwischenglieder anschaulicher zu machen hilft das Ornament, weiches sich be¬ sonders gern farbiger Zeichnung bedient, um an eine bezeichnende Analogie der allen bekannten Natur zu erinnern. So weisen die Kannelüren der Säule auf die Rippen eines aufschießenden Stengels, jenes unter dem irreleitenden Na¬ men des Eierstabes bekannte Ornament auf die durch einen Druck von oben umgebogenen aber doch noch elastisch widerstrebenden Blätter hin; ein bald eckig, bald rund gewundenes Muster (wie in den Verzierungen ^ 1a grse^ne) aus ein Riemen- oder Bandgcflecht, welches bald zu festem Umschnüren ge¬ braucht, bald schwebend in der Höhe über dem freien Raum ausgespannt werden kann. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn wir sagen, daß der Einblick in den Organismus des hellenischen Tempels uns verschlossen war, ehe die „Te¬ ktonik der Hellenen" erschien. Dasselbe Kunstgefühl aber, welches hier die Form nur als den congruentem Ausdruck des Wesens gestaltete, durchdringt auch alle andern Zweige der Kunst. — In der Sculptur ist wiederum die Bereicherung des Stoffes ebenso unend¬ lich als die Fülle der daraus für die Wissenschaft neu erwachsenden Aufgaben. Auf die Statue» vom Parthenon und von Aigina, wie auf die Reliefs von Bashal ward schon hingewiesen, auch die sicilischen Tempel lieferten bedeutende Ausbeute; aus der reichen Masse der übrigen Werke möge nur eines der schönsten, die Aphrodite von Melos. und zwei der neusten Funde Erwähnung finden, die Entdeckung der für die älteste wie für die spätere Zeit gleich wich¬ tigen Sculpturen Lykiens durch den Kohlenhändler Ch. Fellows, und die Aus¬ grabung des Maussolleions in Halikarnasos. Dieselbe Frage nach der Poly- chromie, welche wir oben bei der Architektur erwähnten, ist durch die neuen Entdeckungen auch für die Sculptur besonders nahe gelegt. Es treten nämlich an manchen jener Marmorwerke unzweifelhafte Reste von Malerei hervor, ja in einigen der Selinuntischen Reliefs finden wir gar die nackten Körpertheile aus Marmor, den Rest aus bunt bemaltem Kalktuff gebildet. Dies kann nicht auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/61>, abgerufen am 23.07.2024.