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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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dem drängt sich zunächst das Uebereinstimmende in der Gesichts- und Körper¬
bildung der Bewohner auf, ehe er die individuellen Besonderheiten klar zu er¬
fassen vermag; wer zuerst eine Landschaft unsres deutschen Vaterlandes besucht,
in welcher ein ihm fremdartiger Dialekt herrscht, der glaubt anfangs, es sei
kein Unterschied zwischen den Organen, der Aussprache, den Ausdrucksweisen
der Einzelnen erkennbar, bis fortgesetzte und genauere Bekanntschaft ihn eines
Besseren belehrt. So erging es auch Visconti, und es ist das um so erklär¬
licher, da seine Meinung sich auf die Ueberzeugung eines langen, ganz der Kunst
gewidmeten Lebens stützte. Thiersch, der damals noch jugendlich war, hat in
späteren Jahren, je genauer er die neuen Entdeckungen studirte und je rascher
diese sich mehrten, desto bestimmter den früheren Ansichten entsagt und sich zur
Anerkennung einer wahrhaften und ununterbrochenen Entwicklung bekehrt.

In ungeahnter Fülle entstiegen dem griechischen Boden die treu behüteten
Schätze, auch ohne daß Winckelmanns später von L. Roß und der preußischen
Regierung wieder aufgenommener Plan, in der nur mit Flußschlamm überdeckten
Ebene von Olympia Ausgrabungen anzustellen, bis zum heutigen Tage eine
Wahrheit geworden wäre. Am geringsten ist natürlich die Ausbeute der neueren
Entdeckungen auf dem Felde derMalerci, deren Erzeugnisse ja die vergänglichsten
sind. In Griechenland selbst ist kein antikes Gemälde zum Vorschein gekommen.
Pompeji hat zwar noch reiche Schätze an Wandgemälden geliefert, aber sie alle
sind doch bloße Decorationsarbciten einer späten Zeit, welche nur in seltenen
Fällen einen directen Rückschluß auf die kunstmäßige Malerei früherer Zeiten
gestatten. Andrerseits hat sich durch die umfangreichen Funde namentlich in
Etrurien und Unteritalien die Menge der bemalten Vasen sehr beträchtlich
vermehrt. Winckelmann hatte zuerst der früher herrschenden Ansicht von dem
etruskischen Ursprung solcher Thongefäße widersprochen und sie als griechisch
erkannt; neuere Untersuchungen haben dies Resultat nur bestätigt und weiter
festgestellt, daß dieselben größtentheils in Griechenland, namentlich in Attika,
gefertigt und auf dem Wege des Handels nach allen Weltgegenden verbreitet
worden sind. Dieselben begleiten nun allerdings einen großen Theil der griechi¬
schen Kunstentwickelung, aber nur als Erzeugnisse des Handwerkes, wo neben
vielen trefflichen Gefäßen eine Masse unbedeutender Waare sich erhalten hat.
Theils wegen der Mannigfaltigkeit der aus ihnen dargestellten, vorwiegend
mythologischen Gegenstände, theils als Zeugniß für die allgemeine Verbreitung
des Kunstsinnes bei den Griechen sind uns die Vasen unschätzbar, aber um die
alte Malerei daraus kennen zu lernen genügen sie so wenig, wie heutzutage
Bilderbogen oder die Schildereien unsrer Kaffetassen und Pfeifenköpfe uns einen
Ueberblick über die Entwickelung unsrer Malerei gewähren können. Wir würden
also fast vollständig auf die Nachrichten der alten Schriftsteller von der Malerei
und von einzelnen Gemälden der berühmten Meister angewiesen sein, wenn nicht


dem drängt sich zunächst das Uebereinstimmende in der Gesichts- und Körper¬
bildung der Bewohner auf, ehe er die individuellen Besonderheiten klar zu er¬
fassen vermag; wer zuerst eine Landschaft unsres deutschen Vaterlandes besucht,
in welcher ein ihm fremdartiger Dialekt herrscht, der glaubt anfangs, es sei
kein Unterschied zwischen den Organen, der Aussprache, den Ausdrucksweisen
der Einzelnen erkennbar, bis fortgesetzte und genauere Bekanntschaft ihn eines
Besseren belehrt. So erging es auch Visconti, und es ist das um so erklär¬
licher, da seine Meinung sich auf die Ueberzeugung eines langen, ganz der Kunst
gewidmeten Lebens stützte. Thiersch, der damals noch jugendlich war, hat in
späteren Jahren, je genauer er die neuen Entdeckungen studirte und je rascher
diese sich mehrten, desto bestimmter den früheren Ansichten entsagt und sich zur
Anerkennung einer wahrhaften und ununterbrochenen Entwicklung bekehrt.

In ungeahnter Fülle entstiegen dem griechischen Boden die treu behüteten
Schätze, auch ohne daß Winckelmanns später von L. Roß und der preußischen
Regierung wieder aufgenommener Plan, in der nur mit Flußschlamm überdeckten
Ebene von Olympia Ausgrabungen anzustellen, bis zum heutigen Tage eine
Wahrheit geworden wäre. Am geringsten ist natürlich die Ausbeute der neueren
Entdeckungen auf dem Felde derMalerci, deren Erzeugnisse ja die vergänglichsten
sind. In Griechenland selbst ist kein antikes Gemälde zum Vorschein gekommen.
Pompeji hat zwar noch reiche Schätze an Wandgemälden geliefert, aber sie alle
sind doch bloße Decorationsarbciten einer späten Zeit, welche nur in seltenen
Fällen einen directen Rückschluß auf die kunstmäßige Malerei früherer Zeiten
gestatten. Andrerseits hat sich durch die umfangreichen Funde namentlich in
Etrurien und Unteritalien die Menge der bemalten Vasen sehr beträchtlich
vermehrt. Winckelmann hatte zuerst der früher herrschenden Ansicht von dem
etruskischen Ursprung solcher Thongefäße widersprochen und sie als griechisch
erkannt; neuere Untersuchungen haben dies Resultat nur bestätigt und weiter
festgestellt, daß dieselben größtentheils in Griechenland, namentlich in Attika,
gefertigt und auf dem Wege des Handels nach allen Weltgegenden verbreitet
worden sind. Dieselben begleiten nun allerdings einen großen Theil der griechi¬
schen Kunstentwickelung, aber nur als Erzeugnisse des Handwerkes, wo neben
vielen trefflichen Gefäßen eine Masse unbedeutender Waare sich erhalten hat.
Theils wegen der Mannigfaltigkeit der aus ihnen dargestellten, vorwiegend
mythologischen Gegenstände, theils als Zeugniß für die allgemeine Verbreitung
des Kunstsinnes bei den Griechen sind uns die Vasen unschätzbar, aber um die
alte Malerei daraus kennen zu lernen genügen sie so wenig, wie heutzutage
Bilderbogen oder die Schildereien unsrer Kaffetassen und Pfeifenköpfe uns einen
Ueberblick über die Entwickelung unsrer Malerei gewähren können. Wir würden
also fast vollständig auf die Nachrichten der alten Schriftsteller von der Malerei
und von einzelnen Gemälden der berühmten Meister angewiesen sein, wenn nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/58>, abgerufen am 23.07.2024.