Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

welche ich zu schreiben unternommen habe, ist seine bloße Erzählung der Zeit-
folge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Ge¬
schichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache
Hai, und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern. Dieses
habe ich in dem ersten Theile, in der Abhandlung von der Kunst der alten
Völker,____auszuführen gesucht. Der zweite Theil enthält die Geschichte der
Kunst im engeren Verstände, das ist in Absicht der äußeren Umstände.....
Das Wesen der Kunst aber ist in diesem sowohl als in jenem Theile der vor¬
nehmste Endzweck." Es versteht sich, daß Winckelmann, um dieses Ziel zu
erreichen, sich nicht mit'einer Musterung und kritischen Behandlung der so frag¬
mentarisch aus dem Alterthum "uf uns gekommenen Nachrichten von der Kunst
und den Künstlern begnügte, sondern daß er vor allem die Kunstwerke selber,
die ja nicht allein Quelle, sondern auch Gegenstand der Forschung sind, herbei¬
zog und befragte. Welche Antwort sie dem berufenen Frager gaben, das weih
ein jeder, der einmal die begeisterte Beschreibung des belvederischen Apollon
oder den Hymnus auf den Hcraklestvrso im Vatican gelesen hat. Indessen
auch diese Mittel der Erkenntniß genügten ihm nicht, da er wohl einsah, daß
in der Kunst sich nur eine Seite desselben schöpferischen Geistes offenbart, wel¬
cher den Glauben und die religiösen Anschauungen, die Staatseinrichtungen
und die Sitte des täglichen Lebens, die Dichtung und das Denken desselben
Volkes hervorbringt und bedingt, daß also aus der genaueren Erforschung aller
dieser Zweige auch in die Erkenntniß der Kunst neues Licht strömen muß.
Andrerseits konnte er sich nicht verhehlen, daß der menschliche Geist diese
Thätigkeit nicht ausübt, ohne auch seinerseits auf das Stärkste in Abhängig¬
keit von äußeren Einflüssen zu stehen; die Menschen machen nicht blos die Ge¬
schichte, sondern jeder Einzelne wird auch wieder durch das Geschehene und
durch die Umgebung, kurz durch alle die Bedingungen und Voraussetzungen
seiner Existenz in seinem Handeln bestimmt. So zog also Winckelmann die
Art des Klimas und die Natur des Landes, die Körperbildung der einzelnen
Völker und ihre Trachten, die politischen Verhältnisse, unter denen die Kunst
geübt ward und die Stellung der Künstler zu Staat und Publikum, endlich
auch die Verschiedenheit des Materials und der technischen Behandlung in den
Kreis seiner Betrachtung. Es ist wahrhaft staunenswerth, mit welchem Scharf¬
blick er kein Moment übersah, aus dem die Betrachtung der Kunst Gewinn ziehen
konnte, wenn ihm auch bei der Durchführung natürlich manche Thatsache ver¬
borgen blieb oder in ihrer Bedeutung entging. Dazu aber, daß er die Auf¬
gabe so groß und richtig erfaßt hatte, kam noch der geniale Seherblick, mit dem
er aus der chaotischen Masse des Stoffes die Unterschiede herausfand, die Zei¬
ten und Stile sonderte und, da ihm jede Einzelheit das Bild des Ganzen ver¬
vollständigte, die klare Einsicht des Ganzen aber jedes Einzelne in ein helleres


welche ich zu schreiben unternommen habe, ist seine bloße Erzählung der Zeit-
folge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Ge¬
schichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache
Hai, und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern. Dieses
habe ich in dem ersten Theile, in der Abhandlung von der Kunst der alten
Völker,____auszuführen gesucht. Der zweite Theil enthält die Geschichte der
Kunst im engeren Verstände, das ist in Absicht der äußeren Umstände.....
Das Wesen der Kunst aber ist in diesem sowohl als in jenem Theile der vor¬
nehmste Endzweck." Es versteht sich, daß Winckelmann, um dieses Ziel zu
erreichen, sich nicht mit'einer Musterung und kritischen Behandlung der so frag¬
mentarisch aus dem Alterthum «uf uns gekommenen Nachrichten von der Kunst
und den Künstlern begnügte, sondern daß er vor allem die Kunstwerke selber,
die ja nicht allein Quelle, sondern auch Gegenstand der Forschung sind, herbei¬
zog und befragte. Welche Antwort sie dem berufenen Frager gaben, das weih
ein jeder, der einmal die begeisterte Beschreibung des belvederischen Apollon
oder den Hymnus auf den Hcraklestvrso im Vatican gelesen hat. Indessen
auch diese Mittel der Erkenntniß genügten ihm nicht, da er wohl einsah, daß
in der Kunst sich nur eine Seite desselben schöpferischen Geistes offenbart, wel¬
cher den Glauben und die religiösen Anschauungen, die Staatseinrichtungen
und die Sitte des täglichen Lebens, die Dichtung und das Denken desselben
Volkes hervorbringt und bedingt, daß also aus der genaueren Erforschung aller
dieser Zweige auch in die Erkenntniß der Kunst neues Licht strömen muß.
Andrerseits konnte er sich nicht verhehlen, daß der menschliche Geist diese
Thätigkeit nicht ausübt, ohne auch seinerseits auf das Stärkste in Abhängig¬
keit von äußeren Einflüssen zu stehen; die Menschen machen nicht blos die Ge¬
schichte, sondern jeder Einzelne wird auch wieder durch das Geschehene und
durch die Umgebung, kurz durch alle die Bedingungen und Voraussetzungen
seiner Existenz in seinem Handeln bestimmt. So zog also Winckelmann die
Art des Klimas und die Natur des Landes, die Körperbildung der einzelnen
Völker und ihre Trachten, die politischen Verhältnisse, unter denen die Kunst
geübt ward und die Stellung der Künstler zu Staat und Publikum, endlich
auch die Verschiedenheit des Materials und der technischen Behandlung in den
Kreis seiner Betrachtung. Es ist wahrhaft staunenswerth, mit welchem Scharf¬
blick er kein Moment übersah, aus dem die Betrachtung der Kunst Gewinn ziehen
konnte, wenn ihm auch bei der Durchführung natürlich manche Thatsache ver¬
borgen blieb oder in ihrer Bedeutung entging. Dazu aber, daß er die Auf¬
gabe so groß und richtig erfaßt hatte, kam noch der geniale Seherblick, mit dem
er aus der chaotischen Masse des Stoffes die Unterschiede herausfand, die Zei¬
ten und Stile sonderte und, da ihm jede Einzelheit das Bild des Ganzen ver¬
vollständigte, die klare Einsicht des Ganzen aber jedes Einzelne in ein helleres


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0055" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/282296"/>
          <p xml:id="ID_128" prev="#ID_127" next="#ID_129"> welche ich zu schreiben unternommen habe, ist seine bloße Erzählung der Zeit-<lb/>
folge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Ge¬<lb/>
schichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache<lb/>
Hai, und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern. Dieses<lb/>
habe ich in dem ersten Theile, in der Abhandlung von der Kunst der alten<lb/>
Völker,____auszuführen gesucht. Der zweite Theil enthält die Geschichte der<lb/>
Kunst im engeren Verstände, das ist in Absicht der äußeren Umstände.....<lb/>
Das Wesen der Kunst aber ist in diesem sowohl als in jenem Theile der vor¬<lb/>
nehmste Endzweck."  Es versteht sich, daß Winckelmann, um dieses Ziel zu<lb/>
erreichen, sich nicht mit'einer Musterung und kritischen Behandlung der so frag¬<lb/>
mentarisch aus dem Alterthum «uf uns gekommenen Nachrichten von der Kunst<lb/>
und den Künstlern begnügte, sondern daß er vor allem die Kunstwerke selber,<lb/>
die ja nicht allein Quelle, sondern auch Gegenstand der Forschung sind, herbei¬<lb/>
zog und befragte. Welche Antwort sie dem berufenen Frager gaben, das weih<lb/>
ein jeder, der einmal die begeisterte Beschreibung des belvederischen Apollon<lb/>
oder den Hymnus auf den Hcraklestvrso im Vatican gelesen hat. Indessen<lb/>
auch diese Mittel der Erkenntniß genügten ihm nicht, da er wohl einsah, daß<lb/>
in der Kunst sich nur eine Seite desselben schöpferischen Geistes offenbart, wel¬<lb/>
cher den Glauben und die religiösen Anschauungen, die Staatseinrichtungen<lb/>
und die Sitte des täglichen Lebens, die Dichtung und das Denken desselben<lb/>
Volkes hervorbringt und bedingt, daß also aus der genaueren Erforschung aller<lb/>
dieser Zweige auch in die Erkenntniß der Kunst neues Licht strömen muß.<lb/>
Andrerseits konnte er sich nicht verhehlen, daß der menschliche Geist diese<lb/>
Thätigkeit nicht ausübt, ohne auch seinerseits auf das Stärkste in Abhängig¬<lb/>
keit von äußeren Einflüssen zu stehen; die Menschen machen nicht blos die Ge¬<lb/>
schichte, sondern jeder Einzelne wird auch wieder durch das Geschehene und<lb/>
durch die Umgebung, kurz durch alle die Bedingungen und Voraussetzungen<lb/>
seiner Existenz in seinem Handeln bestimmt. So zog also Winckelmann die<lb/>
Art des Klimas und die Natur des Landes, die Körperbildung der einzelnen<lb/>
Völker und ihre Trachten, die politischen Verhältnisse, unter denen die Kunst<lb/>
geübt ward und die Stellung der Künstler zu Staat und Publikum, endlich<lb/>
auch die Verschiedenheit des Materials und der technischen Behandlung in den<lb/>
Kreis seiner Betrachtung. Es ist wahrhaft staunenswerth, mit welchem Scharf¬<lb/>
blick er kein Moment übersah, aus dem die Betrachtung der Kunst Gewinn ziehen<lb/>
konnte, wenn ihm auch bei der Durchführung natürlich manche Thatsache ver¬<lb/>
borgen blieb oder in ihrer Bedeutung entging.  Dazu aber, daß er die Auf¬<lb/>
gabe so groß und richtig erfaßt hatte, kam noch der geniale Seherblick, mit dem<lb/>
er aus der chaotischen Masse des Stoffes die Unterschiede herausfand, die Zei¬<lb/>
ten und Stile sonderte und, da ihm jede Einzelheit das Bild des Ganzen ver¬<lb/>
vollständigte, die klare Einsicht des Ganzen aber jedes Einzelne in ein helleres</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0055] welche ich zu schreiben unternommen habe, ist seine bloße Erzählung der Zeit- folge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Ge¬ schichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache Hai, und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern. Dieses habe ich in dem ersten Theile, in der Abhandlung von der Kunst der alten Völker,____auszuführen gesucht. Der zweite Theil enthält die Geschichte der Kunst im engeren Verstände, das ist in Absicht der äußeren Umstände..... Das Wesen der Kunst aber ist in diesem sowohl als in jenem Theile der vor¬ nehmste Endzweck." Es versteht sich, daß Winckelmann, um dieses Ziel zu erreichen, sich nicht mit'einer Musterung und kritischen Behandlung der so frag¬ mentarisch aus dem Alterthum «uf uns gekommenen Nachrichten von der Kunst und den Künstlern begnügte, sondern daß er vor allem die Kunstwerke selber, die ja nicht allein Quelle, sondern auch Gegenstand der Forschung sind, herbei¬ zog und befragte. Welche Antwort sie dem berufenen Frager gaben, das weih ein jeder, der einmal die begeisterte Beschreibung des belvederischen Apollon oder den Hymnus auf den Hcraklestvrso im Vatican gelesen hat. Indessen auch diese Mittel der Erkenntniß genügten ihm nicht, da er wohl einsah, daß in der Kunst sich nur eine Seite desselben schöpferischen Geistes offenbart, wel¬ cher den Glauben und die religiösen Anschauungen, die Staatseinrichtungen und die Sitte des täglichen Lebens, die Dichtung und das Denken desselben Volkes hervorbringt und bedingt, daß also aus der genaueren Erforschung aller dieser Zweige auch in die Erkenntniß der Kunst neues Licht strömen muß. Andrerseits konnte er sich nicht verhehlen, daß der menschliche Geist diese Thätigkeit nicht ausübt, ohne auch seinerseits auf das Stärkste in Abhängig¬ keit von äußeren Einflüssen zu stehen; die Menschen machen nicht blos die Ge¬ schichte, sondern jeder Einzelne wird auch wieder durch das Geschehene und durch die Umgebung, kurz durch alle die Bedingungen und Voraussetzungen seiner Existenz in seinem Handeln bestimmt. So zog also Winckelmann die Art des Klimas und die Natur des Landes, die Körperbildung der einzelnen Völker und ihre Trachten, die politischen Verhältnisse, unter denen die Kunst geübt ward und die Stellung der Künstler zu Staat und Publikum, endlich auch die Verschiedenheit des Materials und der technischen Behandlung in den Kreis seiner Betrachtung. Es ist wahrhaft staunenswerth, mit welchem Scharf¬ blick er kein Moment übersah, aus dem die Betrachtung der Kunst Gewinn ziehen konnte, wenn ihm auch bei der Durchführung natürlich manche Thatsache ver¬ borgen blieb oder in ihrer Bedeutung entging. Dazu aber, daß er die Auf¬ gabe so groß und richtig erfaßt hatte, kam noch der geniale Seherblick, mit dem er aus der chaotischen Masse des Stoffes die Unterschiede herausfand, die Zei¬ ten und Stile sonderte und, da ihm jede Einzelheit das Bild des Ganzen ver¬ vollständigte, die klare Einsicht des Ganzen aber jedes Einzelne in ein helleres

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/55
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/55>, abgerufen am 23.07.2024.