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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Winckelmanns Schriften empfing. Aber höher ist noch die Anregung anzuschlagen,
welche die ästhetische Betrachtung der Kunst mittelbar und unmittelbar durch
den auch hierin mit Lessing vereinten Winckelmann erhielt. Das war die
Saite, welche ganz besonders in Deutschlands Forschern nachtönte, welche in
allen den fruchtbaren Untersuchungen, Debatten, Speculationen wiederklang,
in denen ein nicht geringer Theil der literarischen Wiedergeburt Deutschlands
sich vollzog. Wir denken jetzt wohl anders über das Verhältniß des Ideals
zur Natur; uns scheint auch der zu Anfang des Jahrhunderts so lebhaft er¬
örterte Gegensatz zwischen Schönheit und Ausdruck weder an sich so unlösbar,
noch' auch die ausschließliche Anwendung eines dieser beiden Principien auf die
griechische Kunst den historisch erkennbaren Thatsachen zu entsprechen. Wir
glauben ferner die verschiedenen Gesetze nicht blos der bildenden und der dich¬
tenden Kunst, sondern auch der einzelnen bildenden Künste klarer zu erkennen;
aber nie dürfen wir vergessen, auf wessen Schultern wir stehen, und immer
wird dann Winckelmanns Name unter denen genannt werden, welchen das
Verdienst der ersten Anregung gebührt.

Neben der hohen Formvollendung und der ästhetischen Grundlage kommt
aber bei Winckelmanns Kunstgeschichte ein andres, vielleicht noch wichtigeres
Moment in Betracht. Man denke nur, wie es damals noch meistentheils im
Gebiete historischer und antiquarischer Forschung aussah. Bei wie Wenigen
zeigte sich auch nur eine Ahnung davon, daß Geschichtsforschung etwas Anderes
sei als das fleißige Zuscunentragen der uns überlieferten Notizen. Es war
eine dürre Citatengelehrsamteit, die über all dem Kleinen und Vereinzelten nur
selten den Blick zu dem großen Zusammenhang des Ganzen zu erheben ver¬
mochte, welche aus eben diesem Grunde die Kritik nur unsicher und unmetho¬
disch zu handhaben verstand, welche sich ängstlich auf die so vielfach abgerissenen
Zeugnisse der alten Schriftsteller beschränkte und, da sie von der in sich zu¬
sammenhangenden und aus einem Kerne heraus nach den verschiedensten Rich¬
tungen wirksamen Schöpferkraft des menschlichen Geistes keine Ahnung Hatte,
auch jedes noch so kleine Gebiet der Forschung als ein vollständig für sich
bestehendes betrachtete. Daß vollends die Geschichtsforschung nicht blos ein
Äußeres Aneinanderreihen der Thatsachen, sondern ein Erkennen und eine Dar¬
stellung der organischen Entwicklung aus dem innern Wesen heraus bezwecke,
das war eine von Wenigen erkannte Wahrheit; noch war auf keinem Gebiete
historischer oder philologischer Forschung der Versuch gemacht, ein etwas um¬
fangreicheres Ganze von solchem Gesichtspunkte aus zu betrachten und zu be¬
handeln. Das Werk, welches zuerst mit vollem Bewußtsein diese Aufgabe zu
lösen strebte, welchem daher ein Ehrenplatz an der Spitze moderner Geschichts¬
schreibung gebührt, ist Winckelmanns Geschichte der Kunst. Klar und deut¬
lich spricht es die Vorrede aus. "Die Geschichte der Kunst des Alterthums,


Winckelmanns Schriften empfing. Aber höher ist noch die Anregung anzuschlagen,
welche die ästhetische Betrachtung der Kunst mittelbar und unmittelbar durch
den auch hierin mit Lessing vereinten Winckelmann erhielt. Das war die
Saite, welche ganz besonders in Deutschlands Forschern nachtönte, welche in
allen den fruchtbaren Untersuchungen, Debatten, Speculationen wiederklang,
in denen ein nicht geringer Theil der literarischen Wiedergeburt Deutschlands
sich vollzog. Wir denken jetzt wohl anders über das Verhältniß des Ideals
zur Natur; uns scheint auch der zu Anfang des Jahrhunderts so lebhaft er¬
örterte Gegensatz zwischen Schönheit und Ausdruck weder an sich so unlösbar,
noch' auch die ausschließliche Anwendung eines dieser beiden Principien auf die
griechische Kunst den historisch erkennbaren Thatsachen zu entsprechen. Wir
glauben ferner die verschiedenen Gesetze nicht blos der bildenden und der dich¬
tenden Kunst, sondern auch der einzelnen bildenden Künste klarer zu erkennen;
aber nie dürfen wir vergessen, auf wessen Schultern wir stehen, und immer
wird dann Winckelmanns Name unter denen genannt werden, welchen das
Verdienst der ersten Anregung gebührt.

Neben der hohen Formvollendung und der ästhetischen Grundlage kommt
aber bei Winckelmanns Kunstgeschichte ein andres, vielleicht noch wichtigeres
Moment in Betracht. Man denke nur, wie es damals noch meistentheils im
Gebiete historischer und antiquarischer Forschung aussah. Bei wie Wenigen
zeigte sich auch nur eine Ahnung davon, daß Geschichtsforschung etwas Anderes
sei als das fleißige Zuscunentragen der uns überlieferten Notizen. Es war
eine dürre Citatengelehrsamteit, die über all dem Kleinen und Vereinzelten nur
selten den Blick zu dem großen Zusammenhang des Ganzen zu erheben ver¬
mochte, welche aus eben diesem Grunde die Kritik nur unsicher und unmetho¬
disch zu handhaben verstand, welche sich ängstlich auf die so vielfach abgerissenen
Zeugnisse der alten Schriftsteller beschränkte und, da sie von der in sich zu¬
sammenhangenden und aus einem Kerne heraus nach den verschiedensten Rich¬
tungen wirksamen Schöpferkraft des menschlichen Geistes keine Ahnung Hatte,
auch jedes noch so kleine Gebiet der Forschung als ein vollständig für sich
bestehendes betrachtete. Daß vollends die Geschichtsforschung nicht blos ein
Äußeres Aneinanderreihen der Thatsachen, sondern ein Erkennen und eine Dar¬
stellung der organischen Entwicklung aus dem innern Wesen heraus bezwecke,
das war eine von Wenigen erkannte Wahrheit; noch war auf keinem Gebiete
historischer oder philologischer Forschung der Versuch gemacht, ein etwas um¬
fangreicheres Ganze von solchem Gesichtspunkte aus zu betrachten und zu be¬
handeln. Das Werk, welches zuerst mit vollem Bewußtsein diese Aufgabe zu
lösen strebte, welchem daher ein Ehrenplatz an der Spitze moderner Geschichts¬
schreibung gebührt, ist Winckelmanns Geschichte der Kunst. Klar und deut¬
lich spricht es die Vorrede aus. „Die Geschichte der Kunst des Alterthums,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/54>, abgerufen am 23.07.2024.