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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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verein. In Bezug auf Gewerbepolitik jedoch hat er es bis dahin nicht zu
festen Grundsätzen gebracht und seine Stellung in dieser Beziehung scheint
von mancherlei fremdartigen Rücksichten nicht frei zu sein. Durch die Annahme
der Wahl zum Ehrenmitgliede des zünftlerischen rostocker "Handwerkervereins"
hat er sich für eine Politik rücksichtlich der Gewerbeverhältnisse engagirt, welche
kaum mit seiner Denkweise in Einklang stehen möchte. Als Rector (1856--1868)
führte er bei seinen öffentlichen Reden am Geburtstage des Großherzogs die
Neuerung ein. daß er jedesmal am Schlüsse ein dreimaliges Hoch auf den
Landesherrn ausbrachte, ein sorcirtes Unternehmen, welches nach einer abge¬
lesener Rede über ein wissenschaftliches Thema nothwendig auf eine unvorbe¬
reitete Stimmung traf und bei den anwesenden Herren und Damen immer nur
geringe Unterstützung fand. -- Die medicinische Facultät ehrte ihn im Jahre
1862, wie schon früher seinen College" Royer. durch Verleihung der
Doctorwürde.

In der gemischten Gesellschaft, welche in Rostock wie anderswo die phi¬
losophische Facultät genannt wird, findet sich zunächst die Eigenthümlichkeit,
daß der Lehrstuhl der Wissenschaft, von welcher die Facultät den Namen hat,
seit dem Tode des alten Kantianers Joh. sig. Beck (t 1840) unbesetzt ge¬
blieben ist. Man behilft sich mit zwei außerordentlichen Professoren und einem
Privatdocenten der Philosophie, die aber gleichfalls die Philosophie kaum noch
mehr als nominell vertreten. Der außerordentliche Professor Eduard Schmidt,
welcher in gesunden Tagen eine Menge von großen und kleinen Druckschriften
hat ausgehen lassen, ohne dafür besondere Aufmerksamkeit zu finden, aber doch
eine Zeit lang stark besuchte Vorlesungen hielt, hat seit vielen Jahren wegen
Kränklichkeit selbst die Ankündigung von Collegien aufgeben müssen. Ein noch
älterer Genosse, Professor Heinr. Francke, der ein Buch "Philosophie und
Leben" veröffentlicht hat und ein Jünger von Fries ist, ist ein Mann von
tüchtigem Wissen, ehrenwerthen Charakter und liberaler Gesinnung, hat aber
wohl kaum in seinen besten Jahren als Docent viel a/wirkt und dem Ver¬
nehmen nach in Jahrzehnten nicht mehr gelesen. Dasselbe.'gilt von Dr. Karl
Weinholtz, einem Stralsunder'von Geburt, welcher in den ungefähr vier
Jahrzehnten, seit er sich in Rostock als Privatdocent niedergelassen, eine Logik
und mancherlei andere Bücher unter mehr oder weniger seltsamen Titeln
veröffentlicht, aber mit dem darin aufgestellten System des "Organischen"
kein Glück gemacht und neuerdings sich auf die graphische Darstellung von
ihm erfundener Tänze und sonstiger Künste verlegt hat. Die Titel: "Die
organische sprech- und Singschrist, zur Förderung des lautrechten und sinn¬
vollen Vortrags", "der Hanachino, vierpaariger Zehen-Hackentanz", "der Tändler,
ein Gesellschaftstanz" u. f. w. lasse" auf das Ungewöhnliche der hier behandel¬
ten Gegenstände schließen.


verein. In Bezug auf Gewerbepolitik jedoch hat er es bis dahin nicht zu
festen Grundsätzen gebracht und seine Stellung in dieser Beziehung scheint
von mancherlei fremdartigen Rücksichten nicht frei zu sein. Durch die Annahme
der Wahl zum Ehrenmitgliede des zünftlerischen rostocker „Handwerkervereins"
hat er sich für eine Politik rücksichtlich der Gewerbeverhältnisse engagirt, welche
kaum mit seiner Denkweise in Einklang stehen möchte. Als Rector (1856—1868)
führte er bei seinen öffentlichen Reden am Geburtstage des Großherzogs die
Neuerung ein. daß er jedesmal am Schlüsse ein dreimaliges Hoch auf den
Landesherrn ausbrachte, ein sorcirtes Unternehmen, welches nach einer abge¬
lesener Rede über ein wissenschaftliches Thema nothwendig auf eine unvorbe¬
reitete Stimmung traf und bei den anwesenden Herren und Damen immer nur
geringe Unterstützung fand. — Die medicinische Facultät ehrte ihn im Jahre
1862, wie schon früher seinen College» Royer. durch Verleihung der
Doctorwürde.

In der gemischten Gesellschaft, welche in Rostock wie anderswo die phi¬
losophische Facultät genannt wird, findet sich zunächst die Eigenthümlichkeit,
daß der Lehrstuhl der Wissenschaft, von welcher die Facultät den Namen hat,
seit dem Tode des alten Kantianers Joh. sig. Beck (t 1840) unbesetzt ge¬
blieben ist. Man behilft sich mit zwei außerordentlichen Professoren und einem
Privatdocenten der Philosophie, die aber gleichfalls die Philosophie kaum noch
mehr als nominell vertreten. Der außerordentliche Professor Eduard Schmidt,
welcher in gesunden Tagen eine Menge von großen und kleinen Druckschriften
hat ausgehen lassen, ohne dafür besondere Aufmerksamkeit zu finden, aber doch
eine Zeit lang stark besuchte Vorlesungen hielt, hat seit vielen Jahren wegen
Kränklichkeit selbst die Ankündigung von Collegien aufgeben müssen. Ein noch
älterer Genosse, Professor Heinr. Francke, der ein Buch „Philosophie und
Leben" veröffentlicht hat und ein Jünger von Fries ist, ist ein Mann von
tüchtigem Wissen, ehrenwerthen Charakter und liberaler Gesinnung, hat aber
wohl kaum in seinen besten Jahren als Docent viel a/wirkt und dem Ver¬
nehmen nach in Jahrzehnten nicht mehr gelesen. Dasselbe.'gilt von Dr. Karl
Weinholtz, einem Stralsunder'von Geburt, welcher in den ungefähr vier
Jahrzehnten, seit er sich in Rostock als Privatdocent niedergelassen, eine Logik
und mancherlei andere Bücher unter mehr oder weniger seltsamen Titeln
veröffentlicht, aber mit dem darin aufgestellten System des „Organischen"
kein Glück gemacht und neuerdings sich auf die graphische Darstellung von
ihm erfundener Tänze und sonstiger Künste verlegt hat. Die Titel: „Die
organische sprech- und Singschrist, zur Förderung des lautrechten und sinn¬
vollen Vortrags", „der Hanachino, vierpaariger Zehen-Hackentanz", „der Tändler,
ein Gesellschaftstanz" u. f. w. lasse» auf das Ungewöhnliche der hier behandel¬
ten Gegenstände schließen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/531>, abgerufen am 23.07.2024.