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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Bau der inneren festen Theile durch die lebendige Umhüllung des Fleisches nur
durchscheinen läßt. Und so erscheint das Dasein auch des vollendeten Baues
nicht als ein fertiges, sondern immer als ein werdendes, das Mühsame der
Entstehung und Ausführung, die Nöthigung des Bedürfnisses in Stein ver¬
ewigt.

Zu dem verwirrenden Reichthum der äußeren Gestalt steht der Innenraum
im Gegensatz erhabener und feierlicher Einfachheit, welche gleichsam die Größe
des göttlichen Wesens der Kleinheit des Menschen vernichtend entgegenhält.
Aber die freie geheimnißvolle Kraft, mit welcher die Säulenbündel die Gewölbe
aus sich emporzuschwingen scheinen, ist zum Theil wenigstens, wie wir gesehen,
blos täuschender Schein. Und außer Verhältniß steht der in die Höhe aus¬
gedehnte, aufgeschossene Raum zu der Creatur. für deren religiöses Leben er
doch die Stätte bilden soll. "Nichts füllt das Ganze aus, alles eilt vorüber,
die Individuen mit ihrem Treiben verlieren sich und zerstäuben wie Punkte in
diesem Grandiosen (Hegel)." Und so ist wie die Erscheinung des Aeußeren die
Stimmung des Innern ohne rechte Sammlung und Ruhe, aufregend und zer¬
streuend das bunte Dämmerlicht, die ungemessene Höhe, wie die gleichzeitige
Mannigfaltigkeit des Cultus an den verschiedenen Altären.

So fehlt von allen Seiten das Freie. Harmonische, in sich Befriedigte der
wahren künstlerischen Form, die maßvolle und geschlossene Schönheit, welche
das Bedürfniß sowohl befriedigt als seinen Zwang in ihre organische Bewegung
aufhebt. Wer wird deshalb die mächtige Wirkung der gothischen Dome läug-
nen, sie nicht als den in seiner Art vollendeten architektonischen Ausdruck einer
ganzen Zeitstimmung bewundern wollen? Ohne Zweifel, sie sind insofern
Kunstwerke, als sie die Empfindung einer großen Epoche in einer -- wenn
wan es mit dem Worte nicht allzu genau nimmt -- idealen Form ausprägen
und diese Form zu einer in sich selber fertigen Gestalt durchbilden. Aber
durchaus von dem einen Princip beherrscht, das eben nichts war, als der be¬
stimmte Ausdruck einer bestimmten Zeit und in seiner Durchführung ganz auf¬
gegangen, sind es Schöpfungen, deren Leben mit dem Ablauf jener Epoche in
steh selber erloschen ist. Also blos Denkmäler, niemals Vorbilder.
Kunstwerke als geschichtliche Erscheinungen; keine immer muster¬
gültigen Formen des Schönen.




Bau der inneren festen Theile durch die lebendige Umhüllung des Fleisches nur
durchscheinen läßt. Und so erscheint das Dasein auch des vollendeten Baues
nicht als ein fertiges, sondern immer als ein werdendes, das Mühsame der
Entstehung und Ausführung, die Nöthigung des Bedürfnisses in Stein ver¬
ewigt.

Zu dem verwirrenden Reichthum der äußeren Gestalt steht der Innenraum
im Gegensatz erhabener und feierlicher Einfachheit, welche gleichsam die Größe
des göttlichen Wesens der Kleinheit des Menschen vernichtend entgegenhält.
Aber die freie geheimnißvolle Kraft, mit welcher die Säulenbündel die Gewölbe
aus sich emporzuschwingen scheinen, ist zum Theil wenigstens, wie wir gesehen,
blos täuschender Schein. Und außer Verhältniß steht der in die Höhe aus¬
gedehnte, aufgeschossene Raum zu der Creatur. für deren religiöses Leben er
doch die Stätte bilden soll. „Nichts füllt das Ganze aus, alles eilt vorüber,
die Individuen mit ihrem Treiben verlieren sich und zerstäuben wie Punkte in
diesem Grandiosen (Hegel)." Und so ist wie die Erscheinung des Aeußeren die
Stimmung des Innern ohne rechte Sammlung und Ruhe, aufregend und zer¬
streuend das bunte Dämmerlicht, die ungemessene Höhe, wie die gleichzeitige
Mannigfaltigkeit des Cultus an den verschiedenen Altären.

So fehlt von allen Seiten das Freie. Harmonische, in sich Befriedigte der
wahren künstlerischen Form, die maßvolle und geschlossene Schönheit, welche
das Bedürfniß sowohl befriedigt als seinen Zwang in ihre organische Bewegung
aufhebt. Wer wird deshalb die mächtige Wirkung der gothischen Dome läug-
nen, sie nicht als den in seiner Art vollendeten architektonischen Ausdruck einer
ganzen Zeitstimmung bewundern wollen? Ohne Zweifel, sie sind insofern
Kunstwerke, als sie die Empfindung einer großen Epoche in einer — wenn
wan es mit dem Worte nicht allzu genau nimmt — idealen Form ausprägen
und diese Form zu einer in sich selber fertigen Gestalt durchbilden. Aber
durchaus von dem einen Princip beherrscht, das eben nichts war, als der be¬
stimmte Ausdruck einer bestimmten Zeit und in seiner Durchführung ganz auf¬
gegangen, sind es Schöpfungen, deren Leben mit dem Ablauf jener Epoche in
steh selber erloschen ist. Also blos Denkmäler, niemals Vorbilder.
Kunstwerke als geschichtliche Erscheinungen; keine immer muster¬
gültigen Formen des Schönen.




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[0497] Bau der inneren festen Theile durch die lebendige Umhüllung des Fleisches nur durchscheinen läßt. Und so erscheint das Dasein auch des vollendeten Baues nicht als ein fertiges, sondern immer als ein werdendes, das Mühsame der Entstehung und Ausführung, die Nöthigung des Bedürfnisses in Stein ver¬ ewigt. Zu dem verwirrenden Reichthum der äußeren Gestalt steht der Innenraum im Gegensatz erhabener und feierlicher Einfachheit, welche gleichsam die Größe des göttlichen Wesens der Kleinheit des Menschen vernichtend entgegenhält. Aber die freie geheimnißvolle Kraft, mit welcher die Säulenbündel die Gewölbe aus sich emporzuschwingen scheinen, ist zum Theil wenigstens, wie wir gesehen, blos täuschender Schein. Und außer Verhältniß steht der in die Höhe aus¬ gedehnte, aufgeschossene Raum zu der Creatur. für deren religiöses Leben er doch die Stätte bilden soll. „Nichts füllt das Ganze aus, alles eilt vorüber, die Individuen mit ihrem Treiben verlieren sich und zerstäuben wie Punkte in diesem Grandiosen (Hegel)." Und so ist wie die Erscheinung des Aeußeren die Stimmung des Innern ohne rechte Sammlung und Ruhe, aufregend und zer¬ streuend das bunte Dämmerlicht, die ungemessene Höhe, wie die gleichzeitige Mannigfaltigkeit des Cultus an den verschiedenen Altären. So fehlt von allen Seiten das Freie. Harmonische, in sich Befriedigte der wahren künstlerischen Form, die maßvolle und geschlossene Schönheit, welche das Bedürfniß sowohl befriedigt als seinen Zwang in ihre organische Bewegung aufhebt. Wer wird deshalb die mächtige Wirkung der gothischen Dome läug- nen, sie nicht als den in seiner Art vollendeten architektonischen Ausdruck einer ganzen Zeitstimmung bewundern wollen? Ohne Zweifel, sie sind insofern Kunstwerke, als sie die Empfindung einer großen Epoche in einer — wenn wan es mit dem Worte nicht allzu genau nimmt — idealen Form ausprägen und diese Form zu einer in sich selber fertigen Gestalt durchbilden. Aber durchaus von dem einen Princip beherrscht, das eben nichts war, als der be¬ stimmte Ausdruck einer bestimmten Zeit und in seiner Durchführung ganz auf¬ gegangen, sind es Schöpfungen, deren Leben mit dem Ablauf jener Epoche in steh selber erloschen ist. Also blos Denkmäler, niemals Vorbilder. Kunstwerke als geschichtliche Erscheinungen; keine immer muster¬ gültigen Formen des Schönen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/497>, abgerufen am 23.07.2024.