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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Gewölbes ineinanderfließen, und im Grunde ist der ganze Bau nichts als eine
Zahl von Säulenbündeln, die sich mit ihren Spitzen zueinanderneigen. Denn
was die Außengestalt des Baues bezeichnet, das Strebesystem, ist nur dieser
Bündel wegen da. Jedes Glied nicht blos, auch das Ornament -- die wenigen
Fälle ausgenommen, wo es nur lose aufgeheftete Zierde ist -- soll nichts sein, als
der nackte Ausdruck der steigenden Tendenz, soll auch spielend noch in der knappen
geometrischen Form die Dienstleistung offen bekennen. Nicht einmal von der
Erde sich entschieden abzuheben, sich seinen eigenen Boden zu bereiten, nimmt
der Bau sich Zeit; sondern schon mit dem untersten Steine ringt er aufwärts
und ruht nicht, bis er mit der körperlichen Spitze in die Luft sich verflüchtigt.
Denn mit dem Princip, die stoffliche Schwere des Steins durch die steigende Kraft
zu überwinden, geht das Streben Hand in Hand, seinen körperhaften lagernden Zu¬
sammenhang zu verläugnen, seine Wucht und Masse zu tilgen. Immer und überall
das alles umspannende, alles durchdringende Eins des Gesetzes: daher der
"Mze gewaltige Bau in den Gliedern wie im Schmuck die endlose Wieder¬
holung der wenigen Grundformen, ein Krystall zusammengeschossen aus unendlich
vielen Krystallen derselben Form, nur von der verschiedensten Größe. Nirgends
eine nackte Stelle, denn das Zeitalter liebte den Schmuck, und die Strenge des
Stils wirkte schroff und abstoßend sobald die Construction blos in der nüchternen
Gestalt des Bedürfnisses erschien; aber das Schmuckwerk, welches das ganze
Gebäude umspinnt, immer nur der Nachklang, gleichsam das selbstlose Ver¬
haltende Echo der structiven Nothwendigkeit. Es war in der Architektur, wie
im Leben, wo die Macht der Kirche 'alles ihrer Gewalt unterwarf und allen
Ständen, allen Verhältnissen ihren gleichmäßigen Stempel aufdrückte.

Aber indem das eine Gesetz der Construction den Stoff in Widerspruch
mit seiner Natur bezwang, überstieg es zugleich dessen eigene innere Kraft: die
aufstrebenden Glieder, die den ganzen Bau schon in sich ausmachten, vermoch¬
ten doch diese Riesenarbeit nicht aus sich selber zu verrichten und bedurften,
wie wir gesehen, der Stützen (das Strebesystem). Nicht genug also, daß sich
die structive Thätigkeit schon in den Gliedern selber aussprach, im Ornament
sich mit dem Schein des Spieles wiederholte. Sondern noch entstanden For¬
men, welche wiederum nur dienende Mittel für die höhere Dienstleistung jener
Theile waren, Handlanger gleichsam der den Bau ausführenden Gehilfen.
In ihnen kommt die mechanische, dem freien Leben künstlerischer Thätigkeit ent¬
gegengesetzte Natur des Stils vollends zu Tage. Sie umstehen starrend, stem¬
mend, steifend den Bau, nicht nur in sich selber ohne Ausdruck und ohne Be-
deutung, sondern auch die Erscheinung des Ganzen zerstückelnd, verwirrend,
verwickelnd; auch sie fast ausgelöst in Zierformen und daher ein doppeltes
Räthsel. Denn das Auge kann ihren Zweck nicht fassen, da das Glied, dem
sie dienen, im Innern der Kirche, also dem Blick, der nur die Streben vor sich


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Gewölbes ineinanderfließen, und im Grunde ist der ganze Bau nichts als eine
Zahl von Säulenbündeln, die sich mit ihren Spitzen zueinanderneigen. Denn
was die Außengestalt des Baues bezeichnet, das Strebesystem, ist nur dieser
Bündel wegen da. Jedes Glied nicht blos, auch das Ornament — die wenigen
Fälle ausgenommen, wo es nur lose aufgeheftete Zierde ist — soll nichts sein, als
der nackte Ausdruck der steigenden Tendenz, soll auch spielend noch in der knappen
geometrischen Form die Dienstleistung offen bekennen. Nicht einmal von der
Erde sich entschieden abzuheben, sich seinen eigenen Boden zu bereiten, nimmt
der Bau sich Zeit; sondern schon mit dem untersten Steine ringt er aufwärts
und ruht nicht, bis er mit der körperlichen Spitze in die Luft sich verflüchtigt.
Denn mit dem Princip, die stoffliche Schwere des Steins durch die steigende Kraft
zu überwinden, geht das Streben Hand in Hand, seinen körperhaften lagernden Zu¬
sammenhang zu verläugnen, seine Wucht und Masse zu tilgen. Immer und überall
das alles umspannende, alles durchdringende Eins des Gesetzes: daher der
"Mze gewaltige Bau in den Gliedern wie im Schmuck die endlose Wieder¬
holung der wenigen Grundformen, ein Krystall zusammengeschossen aus unendlich
vielen Krystallen derselben Form, nur von der verschiedensten Größe. Nirgends
eine nackte Stelle, denn das Zeitalter liebte den Schmuck, und die Strenge des
Stils wirkte schroff und abstoßend sobald die Construction blos in der nüchternen
Gestalt des Bedürfnisses erschien; aber das Schmuckwerk, welches das ganze
Gebäude umspinnt, immer nur der Nachklang, gleichsam das selbstlose Ver¬
haltende Echo der structiven Nothwendigkeit. Es war in der Architektur, wie
im Leben, wo die Macht der Kirche 'alles ihrer Gewalt unterwarf und allen
Ständen, allen Verhältnissen ihren gleichmäßigen Stempel aufdrückte.

Aber indem das eine Gesetz der Construction den Stoff in Widerspruch
mit seiner Natur bezwang, überstieg es zugleich dessen eigene innere Kraft: die
aufstrebenden Glieder, die den ganzen Bau schon in sich ausmachten, vermoch¬
ten doch diese Riesenarbeit nicht aus sich selber zu verrichten und bedurften,
wie wir gesehen, der Stützen (das Strebesystem). Nicht genug also, daß sich
die structive Thätigkeit schon in den Gliedern selber aussprach, im Ornament
sich mit dem Schein des Spieles wiederholte. Sondern noch entstanden For¬
men, welche wiederum nur dienende Mittel für die höhere Dienstleistung jener
Theile waren, Handlanger gleichsam der den Bau ausführenden Gehilfen.
In ihnen kommt die mechanische, dem freien Leben künstlerischer Thätigkeit ent¬
gegengesetzte Natur des Stils vollends zu Tage. Sie umstehen starrend, stem¬
mend, steifend den Bau, nicht nur in sich selber ohne Ausdruck und ohne Be-
deutung, sondern auch die Erscheinung des Ganzen zerstückelnd, verwirrend,
verwickelnd; auch sie fast ausgelöst in Zierformen und daher ein doppeltes
Räthsel. Denn das Auge kann ihren Zweck nicht fassen, da das Glied, dem
sie dienen, im Innern der Kirche, also dem Blick, der nur die Streben vor sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/495>, abgerufen am 23.07.2024.