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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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zierungstrieb das stmctive Gesetz nicht sowohl zum Ausdruck gebracht als verdeckt.
Dafür aber haben ihre Werke eine lebendige, Empfindung und Phantasie
gleich stark anregende Wirkung und eine gewisse anschauliche Klarheit der Ge-
sammterscheinung, welche die deutschen Bauten des ausgebildeten Stils vermissen
lassen. Was Schnaase von der kölner Domfa^abe, für die eine Zeit lang das
romantische Deutschland in blinder Entzückung schwärmte, eingestehen muß, daß
nämlich das Ganze nur die verständige Durchführung eines gegebenen "poetischen
Gedankens" sei und uns die Lebensfülle, die Unmittelbarkeit der Empfindung,
welche den Schöpfungen des frühgothischen Stils eigen ist, nicht entgegenbringe;
daß die unzähligen Einzelheiten, nur flüchtige, vorübergehende Aeußerungen
desselben Princips, das Auge durch ihre Menge und ihren Parallelismus nur
ermüde: eben das gilt von der deutschen Gothik überhaupt, sobald sie den
Anspruch erhebt, eigenthümlich zu sein.

Denn die bloße regelmäßige Durchführung eines constructiver
Princips ist, auch wenn sie sich im Spiel einer Ornamentik -- das ja hier
lediglich systematischer Ausdruck des Gesetzes ist -- ins Endlose wiederholt,
niemals im eigentlichen Sinne künstlerisch; sie schließt die freie Thä¬
tigkeit der Phantasie und die lebendige Vermittlung der Gegensätze aus. Gerade
die Ausbildung des Stils, auf welche man sich als eine nationale in Deutsch¬
land nicht wenig zu gute thut, setzt an die Stelle des Kunstwerkes ein --
allerdings riesengroßes und Staunenswerthes -- Kunststück. Damit steht ganz
im Einklang, daß die Meister der deutschen Dome im Grunde nichts waren
als Steinmetzen. Man hat früher der geometrischen Grundlage des Stils eine
übertriebene Bedeutung beigelegt und in gewissen Formeln vergeblich sein Ge¬
heimniß finden wollen; so viel aber ist sicher, daß die späteren deutschen Bau-
meister das lebendige Verständniß des Stils verloren hatten und nach den Re¬
geln der Quadratur und Triangulatur das System mechanisch handhabten. Es
war das allerdings schon in der Zeit des Verfalles, aber doch die natürliche
Folge der deutschen in die Spitzfindigkeit auslaufenden Consequenz. Daß die
großen Meister der Blüthezeit mit genialer Begabung ein künstlerisches Raum¬
gefühl und einen seinen Sinn für die schmückende Ausstattung verbanden, dies
bestreiten zu wollen, wäre thöricht. Aber auch über sie kam das System mit
zwingender Gewalt und schlug ihre Phantasie in die Fesseln des einförmigen
Gesetzes. Wie der eine Gedanke des verticalen Aufsteigens sich die wider¬
spenstige Natur des Stoffs unterwirft und ihn in seine Formen nöthigt, so
nimmt er auch den Geist des Meisters gefangen und lenkt gebieterisch seine Er>
findung in die Grenzen der Regel.

Und so ist überall die jede Selbständigkeit, jede Mannigfaltigkeit unter¬
drückende Herrschaft des einen Princips. Der lebensvolle Gegensatz von Kraft
und Last ist aufgehoben, indem die Dienste und die Gurten, die Nippen des


zierungstrieb das stmctive Gesetz nicht sowohl zum Ausdruck gebracht als verdeckt.
Dafür aber haben ihre Werke eine lebendige, Empfindung und Phantasie
gleich stark anregende Wirkung und eine gewisse anschauliche Klarheit der Ge-
sammterscheinung, welche die deutschen Bauten des ausgebildeten Stils vermissen
lassen. Was Schnaase von der kölner Domfa^abe, für die eine Zeit lang das
romantische Deutschland in blinder Entzückung schwärmte, eingestehen muß, daß
nämlich das Ganze nur die verständige Durchführung eines gegebenen „poetischen
Gedankens" sei und uns die Lebensfülle, die Unmittelbarkeit der Empfindung,
welche den Schöpfungen des frühgothischen Stils eigen ist, nicht entgegenbringe;
daß die unzähligen Einzelheiten, nur flüchtige, vorübergehende Aeußerungen
desselben Princips, das Auge durch ihre Menge und ihren Parallelismus nur
ermüde: eben das gilt von der deutschen Gothik überhaupt, sobald sie den
Anspruch erhebt, eigenthümlich zu sein.

Denn die bloße regelmäßige Durchführung eines constructiver
Princips ist, auch wenn sie sich im Spiel einer Ornamentik — das ja hier
lediglich systematischer Ausdruck des Gesetzes ist — ins Endlose wiederholt,
niemals im eigentlichen Sinne künstlerisch; sie schließt die freie Thä¬
tigkeit der Phantasie und die lebendige Vermittlung der Gegensätze aus. Gerade
die Ausbildung des Stils, auf welche man sich als eine nationale in Deutsch¬
land nicht wenig zu gute thut, setzt an die Stelle des Kunstwerkes ein —
allerdings riesengroßes und Staunenswerthes — Kunststück. Damit steht ganz
im Einklang, daß die Meister der deutschen Dome im Grunde nichts waren
als Steinmetzen. Man hat früher der geometrischen Grundlage des Stils eine
übertriebene Bedeutung beigelegt und in gewissen Formeln vergeblich sein Ge¬
heimniß finden wollen; so viel aber ist sicher, daß die späteren deutschen Bau-
meister das lebendige Verständniß des Stils verloren hatten und nach den Re¬
geln der Quadratur und Triangulatur das System mechanisch handhabten. Es
war das allerdings schon in der Zeit des Verfalles, aber doch die natürliche
Folge der deutschen in die Spitzfindigkeit auslaufenden Consequenz. Daß die
großen Meister der Blüthezeit mit genialer Begabung ein künstlerisches Raum¬
gefühl und einen seinen Sinn für die schmückende Ausstattung verbanden, dies
bestreiten zu wollen, wäre thöricht. Aber auch über sie kam das System mit
zwingender Gewalt und schlug ihre Phantasie in die Fesseln des einförmigen
Gesetzes. Wie der eine Gedanke des verticalen Aufsteigens sich die wider¬
spenstige Natur des Stoffs unterwirft und ihn in seine Formen nöthigt, so
nimmt er auch den Geist des Meisters gefangen und lenkt gebieterisch seine Er>
findung in die Grenzen der Regel.

Und so ist überall die jede Selbständigkeit, jede Mannigfaltigkeit unter¬
drückende Herrschaft des einen Princips. Der lebensvolle Gegensatz von Kraft
und Last ist aufgehoben, indem die Dienste und die Gurten, die Nippen des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/494>, abgerufen am 23.07.2024.