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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Nissen vielmehr entgegen war. Die Anhänglichkeit an die romanische Kunstform,
welche an das deutsche Gefühlsleben stimmungsvoll anklang und in ihren mehr
natürlichen Bildungen der Phantasie vertrauter war, der Zusammenhang, der
noch mit der classischen Welt bestand, andrerseits das deutsche Wesen selber,
von vornherein aus ungebundene Entwickelung der individuellen Eigenart an¬
gelegt, zudem damals in dem losen Verbände des staatlichen Daseins in eine
Mannigfaltigkeit verschiedener in sich abgeschlossener Lebenszustände zersplittert,
widerstrebten dem strengen und energisch zusammenfassenden Charakter des Stils.
Dagegen steht mit eben diesem das französische Wesen, gemischt aus roma-
nischen und germanischen Elementen und beide zu einer immer strafferen Einheit
verschmelzend, ganz im Einklang, wie denn von jeher die systematische, die
Gegensätze in sich auflösende Form Sache des Franzosen ist. In der Architektur
scheint überhaupt dem deutschen Geiste die schöpferische Gestaltungskraft versagt
in sein, während ihm die Gabe, fremde Formen auszunehmen und glücklich
wiederzubilden, in hohem Grade eigen ist.

Erst dann, als sich das System in den großen deutschen Domen zu einer
w sich fertigen Gestalt abzuschließen suchte und durch ihr Beispiel ein allgemeiner
Baueifer erwachte, begann sich bei uns eben für diese Vollendung ein ge¬
wisses selbständiges Streben zu regen. Dieses konnte nur auf die strenge
und gesetzmäßige Durchführung der Grundsätze bis in ihre letzten Folgen und
die kleinsten Einzelformen gerichtet sein; das lag ebensosehr im eigenthümlichen
Wesen des Stiles und in der eisernen Gründlichkeit des deutschen Charakters
-- hierin war zwischen beiden Uebereinstimmung -- als in dem damaligen
Leben, das sich nur in den festen geordneten Verhältnissen der Städte zu pro-
ductiver Kraft aufraffte und daher das Bürgerliche, Gediegene derselben auf
die Kunst übertrug. Diese straffe, consequente. ausgrübelnde, jede Einmischung
erfinderischer Phantasie, jeden Reichthum mannigfaltiger Formen abweisende
Ausarbeitung der Bauart: das vollständige Auslöschen des echt-architektonischen
Gegensatzes von Last und Kraft in der Pfeilerbildung, die gänzliche Beseiti¬
gung der Horizontale, dagegen die Ausbildung des Verticalprincivs bis zu seinen
äußersten Spitzen, die Auflösung der umschließenden Mauer in Stab- und
Fensterwerk, die wahrhaft fanatische Begeisterung für den Thurmbau, der im
durchbrochenen Helm selbst das Bedürfniß durch den Zwang des Systems über¬
windet, endlich die Vorliebe für ein geometrisches Spiel der Formen (namentlich
^n der Polygonanlage des Chors und im Maßwerk): darin besteht die eigentlich
deutsche Behandlung des Stils. Dieser unerschütterlichen Folgerichtigkeit kann
fich allerdings nicht die französische Gothik -- noch weniger die italienische --
rühmen; sie hat bis zu einem gewissen Grade das willkürliche Spiel künstlerischer
Phantasie in sich eingelassen, das Schlanke, Senkrechte des aufstrebenden
Baues durch horizontale Linien gebrochen und öfters in überquellendem Ver-


Grenzboten I. 186S. , 59

Nissen vielmehr entgegen war. Die Anhänglichkeit an die romanische Kunstform,
welche an das deutsche Gefühlsleben stimmungsvoll anklang und in ihren mehr
natürlichen Bildungen der Phantasie vertrauter war, der Zusammenhang, der
noch mit der classischen Welt bestand, andrerseits das deutsche Wesen selber,
von vornherein aus ungebundene Entwickelung der individuellen Eigenart an¬
gelegt, zudem damals in dem losen Verbände des staatlichen Daseins in eine
Mannigfaltigkeit verschiedener in sich abgeschlossener Lebenszustände zersplittert,
widerstrebten dem strengen und energisch zusammenfassenden Charakter des Stils.
Dagegen steht mit eben diesem das französische Wesen, gemischt aus roma-
nischen und germanischen Elementen und beide zu einer immer strafferen Einheit
verschmelzend, ganz im Einklang, wie denn von jeher die systematische, die
Gegensätze in sich auflösende Form Sache des Franzosen ist. In der Architektur
scheint überhaupt dem deutschen Geiste die schöpferische Gestaltungskraft versagt
in sein, während ihm die Gabe, fremde Formen auszunehmen und glücklich
wiederzubilden, in hohem Grade eigen ist.

Erst dann, als sich das System in den großen deutschen Domen zu einer
w sich fertigen Gestalt abzuschließen suchte und durch ihr Beispiel ein allgemeiner
Baueifer erwachte, begann sich bei uns eben für diese Vollendung ein ge¬
wisses selbständiges Streben zu regen. Dieses konnte nur auf die strenge
und gesetzmäßige Durchführung der Grundsätze bis in ihre letzten Folgen und
die kleinsten Einzelformen gerichtet sein; das lag ebensosehr im eigenthümlichen
Wesen des Stiles und in der eisernen Gründlichkeit des deutschen Charakters
— hierin war zwischen beiden Uebereinstimmung — als in dem damaligen
Leben, das sich nur in den festen geordneten Verhältnissen der Städte zu pro-
ductiver Kraft aufraffte und daher das Bürgerliche, Gediegene derselben auf
die Kunst übertrug. Diese straffe, consequente. ausgrübelnde, jede Einmischung
erfinderischer Phantasie, jeden Reichthum mannigfaltiger Formen abweisende
Ausarbeitung der Bauart: das vollständige Auslöschen des echt-architektonischen
Gegensatzes von Last und Kraft in der Pfeilerbildung, die gänzliche Beseiti¬
gung der Horizontale, dagegen die Ausbildung des Verticalprincivs bis zu seinen
äußersten Spitzen, die Auflösung der umschließenden Mauer in Stab- und
Fensterwerk, die wahrhaft fanatische Begeisterung für den Thurmbau, der im
durchbrochenen Helm selbst das Bedürfniß durch den Zwang des Systems über¬
windet, endlich die Vorliebe für ein geometrisches Spiel der Formen (namentlich
^n der Polygonanlage des Chors und im Maßwerk): darin besteht die eigentlich
deutsche Behandlung des Stils. Dieser unerschütterlichen Folgerichtigkeit kann
fich allerdings nicht die französische Gothik — noch weniger die italienische —
rühmen; sie hat bis zu einem gewissen Grade das willkürliche Spiel künstlerischer
Phantasie in sich eingelassen, das Schlanke, Senkrechte des aufstrebenden
Baues durch horizontale Linien gebrochen und öfters in überquellendem Ver-


Grenzboten I. 186S. , 59
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[0493] Nissen vielmehr entgegen war. Die Anhänglichkeit an die romanische Kunstform, welche an das deutsche Gefühlsleben stimmungsvoll anklang und in ihren mehr natürlichen Bildungen der Phantasie vertrauter war, der Zusammenhang, der noch mit der classischen Welt bestand, andrerseits das deutsche Wesen selber, von vornherein aus ungebundene Entwickelung der individuellen Eigenart an¬ gelegt, zudem damals in dem losen Verbände des staatlichen Daseins in eine Mannigfaltigkeit verschiedener in sich abgeschlossener Lebenszustände zersplittert, widerstrebten dem strengen und energisch zusammenfassenden Charakter des Stils. Dagegen steht mit eben diesem das französische Wesen, gemischt aus roma- nischen und germanischen Elementen und beide zu einer immer strafferen Einheit verschmelzend, ganz im Einklang, wie denn von jeher die systematische, die Gegensätze in sich auflösende Form Sache des Franzosen ist. In der Architektur scheint überhaupt dem deutschen Geiste die schöpferische Gestaltungskraft versagt in sein, während ihm die Gabe, fremde Formen auszunehmen und glücklich wiederzubilden, in hohem Grade eigen ist. Erst dann, als sich das System in den großen deutschen Domen zu einer w sich fertigen Gestalt abzuschließen suchte und durch ihr Beispiel ein allgemeiner Baueifer erwachte, begann sich bei uns eben für diese Vollendung ein ge¬ wisses selbständiges Streben zu regen. Dieses konnte nur auf die strenge und gesetzmäßige Durchführung der Grundsätze bis in ihre letzten Folgen und die kleinsten Einzelformen gerichtet sein; das lag ebensosehr im eigenthümlichen Wesen des Stiles und in der eisernen Gründlichkeit des deutschen Charakters — hierin war zwischen beiden Uebereinstimmung — als in dem damaligen Leben, das sich nur in den festen geordneten Verhältnissen der Städte zu pro- ductiver Kraft aufraffte und daher das Bürgerliche, Gediegene derselben auf die Kunst übertrug. Diese straffe, consequente. ausgrübelnde, jede Einmischung erfinderischer Phantasie, jeden Reichthum mannigfaltiger Formen abweisende Ausarbeitung der Bauart: das vollständige Auslöschen des echt-architektonischen Gegensatzes von Last und Kraft in der Pfeilerbildung, die gänzliche Beseiti¬ gung der Horizontale, dagegen die Ausbildung des Verticalprincivs bis zu seinen äußersten Spitzen, die Auflösung der umschließenden Mauer in Stab- und Fensterwerk, die wahrhaft fanatische Begeisterung für den Thurmbau, der im durchbrochenen Helm selbst das Bedürfniß durch den Zwang des Systems über¬ windet, endlich die Vorliebe für ein geometrisches Spiel der Formen (namentlich ^n der Polygonanlage des Chors und im Maßwerk): darin besteht die eigentlich deutsche Behandlung des Stils. Dieser unerschütterlichen Folgerichtigkeit kann fich allerdings nicht die französische Gothik — noch weniger die italienische — rühmen; sie hat bis zu einem gewissen Grade das willkürliche Spiel künstlerischer Phantasie in sich eingelassen, das Schlanke, Senkrechte des aufstrebenden Baues durch horizontale Linien gebrochen und öfters in überquellendem Ver- Grenzboten I. 186S. , 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/493>, abgerufen am 23.07.2024.