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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Denn er meinte nun doch wenigstens den Kern des Glaubens zu retten, wenn
er dem Menschen Jesus eine vollkommen ideale sündlose Entwicklung zuschrieb
und selbst die Möglichkeit der Sünde von diesem Leben ausschloß, wenn er
annahm, das Gottesbewußlsein. d. h. die religiösen und sittlichen Triebfedern
seien in Jesus das allein Bestimmende gewesen, so daß ihm jeder sittliche Kampf
erspart blieb, oder wie er sich auch ausdrückt, in Jesus sei das Urbildliche
vollkommen geschichtlich, jeder geschichtliche Moment zugleich vollkommen urbild¬
lich gewesen. Sein Christus ist das Ideal der Menschheit verwirklicht in einer
historischen Persönlichkeit. Mit diesem Begriff glaubte er die beiden Ansichten,
welche entweder nur das Menschliche oder einseitig das Göttliche in Jesus be¬
tonen, die ebionitische und die doketische Ansicht, wie er sie nennt, als zwei
Extreme gleichmäßig vermieden zu haben. In Wahrheit hatte er sich damit
zwischen zwei Stühlen niedergelassen, zwischen dem Jesus der Geschichte und
dem Christus der Kirche. Denn dem letzteren hatte er die kirchlichen Grund¬
lagen entzogen, während sein urbildlicher Christus, in welchem die Reinheit
und Fülle der Idee verwirklicht ist, eben damit durch eine tiefe Kluft von der
wahren Menschheit geschieden blieb.

Von hier aus können wir nun bereits unschwer erkennen, wie sich die Un¬
tersuchung der evangelischen Berichte des Näheren bei Schleiermacher gestalten
wird. Er wird auf die Ermittlung eben dieses Christusbildes ausgehen und
was ihm nicht in nothwendiger Beziehung dazu steht, was nach ihm kein Mo¬
ment für den Glauben hat, wie z. B. die meisten Erzählungen der Vorgeschichte
Jesu und manche Wunder, freimüthig ablehnen, aber um so eifriger festhalten,
was ihm die Züge desselben wiederzugeben scheint. . Wo ihn die Beschaffenheit
der Erzählungen in Verlegenheit setzt, wird nicht selten der Machtspruch seiner
Voraussetzungen entscheiden müssen. Sätze wie die: dies und das ist unver¬
einbar mit unserer Voraussetzung von Christo, er konnte das, was er in un¬
serem Glauben ist, nur sein, wenn u. s. w. kehren bei der Auslegung biblischer
Stellen mehrfach wieder. Sein Scharfsinn wird ihn deutlich die Widersprüche
der evangelischen Berichterstattung erkennen lassen, insbesondere wird ihm der
durchgreifende Widerspruch zwischen der johanneischen und der synoptischen Dar¬
stellung nicht entgehen. Allein statt kritischer Gründe entscheidet auch hier seine
dogmatische Voreingenommenheit: bei Johannes, nicht bei den Synoptikern
findet er die Ansätze, die Motive zu seinem idealen Christusbilde, und so ist
ihm überall das Johannisevangelium das Werk eines unmittelbaren Augen¬
zeugen, während er die Synoptiker als ein Aggregat secundärer Nachrichten
tief dagegen in Schatten stellt. Er wird vermöge seines philosophischen Stand¬
punktes nichts schlechthin Uebernatürliches anerkennen und vermöge seines kritisch
geübten Blickes überall auf Unannehmbares in den Texten stoßen. Aber die
Zugeständnisse, die er dem Glauben gemacht, werden ihn auch hier verfolgen


Denn er meinte nun doch wenigstens den Kern des Glaubens zu retten, wenn
er dem Menschen Jesus eine vollkommen ideale sündlose Entwicklung zuschrieb
und selbst die Möglichkeit der Sünde von diesem Leben ausschloß, wenn er
annahm, das Gottesbewußlsein. d. h. die religiösen und sittlichen Triebfedern
seien in Jesus das allein Bestimmende gewesen, so daß ihm jeder sittliche Kampf
erspart blieb, oder wie er sich auch ausdrückt, in Jesus sei das Urbildliche
vollkommen geschichtlich, jeder geschichtliche Moment zugleich vollkommen urbild¬
lich gewesen. Sein Christus ist das Ideal der Menschheit verwirklicht in einer
historischen Persönlichkeit. Mit diesem Begriff glaubte er die beiden Ansichten,
welche entweder nur das Menschliche oder einseitig das Göttliche in Jesus be¬
tonen, die ebionitische und die doketische Ansicht, wie er sie nennt, als zwei
Extreme gleichmäßig vermieden zu haben. In Wahrheit hatte er sich damit
zwischen zwei Stühlen niedergelassen, zwischen dem Jesus der Geschichte und
dem Christus der Kirche. Denn dem letzteren hatte er die kirchlichen Grund¬
lagen entzogen, während sein urbildlicher Christus, in welchem die Reinheit
und Fülle der Idee verwirklicht ist, eben damit durch eine tiefe Kluft von der
wahren Menschheit geschieden blieb.

Von hier aus können wir nun bereits unschwer erkennen, wie sich die Un¬
tersuchung der evangelischen Berichte des Näheren bei Schleiermacher gestalten
wird. Er wird auf die Ermittlung eben dieses Christusbildes ausgehen und
was ihm nicht in nothwendiger Beziehung dazu steht, was nach ihm kein Mo¬
ment für den Glauben hat, wie z. B. die meisten Erzählungen der Vorgeschichte
Jesu und manche Wunder, freimüthig ablehnen, aber um so eifriger festhalten,
was ihm die Züge desselben wiederzugeben scheint. . Wo ihn die Beschaffenheit
der Erzählungen in Verlegenheit setzt, wird nicht selten der Machtspruch seiner
Voraussetzungen entscheiden müssen. Sätze wie die: dies und das ist unver¬
einbar mit unserer Voraussetzung von Christo, er konnte das, was er in un¬
serem Glauben ist, nur sein, wenn u. s. w. kehren bei der Auslegung biblischer
Stellen mehrfach wieder. Sein Scharfsinn wird ihn deutlich die Widersprüche
der evangelischen Berichterstattung erkennen lassen, insbesondere wird ihm der
durchgreifende Widerspruch zwischen der johanneischen und der synoptischen Dar¬
stellung nicht entgehen. Allein statt kritischer Gründe entscheidet auch hier seine
dogmatische Voreingenommenheit: bei Johannes, nicht bei den Synoptikern
findet er die Ansätze, die Motive zu seinem idealen Christusbilde, und so ist
ihm überall das Johannisevangelium das Werk eines unmittelbaren Augen¬
zeugen, während er die Synoptiker als ein Aggregat secundärer Nachrichten
tief dagegen in Schatten stellt. Er wird vermöge seines philosophischen Stand¬
punktes nichts schlechthin Uebernatürliches anerkennen und vermöge seines kritisch
geübten Blickes überall auf Unannehmbares in den Texten stoßen. Aber die
Zugeständnisse, die er dem Glauben gemacht, werden ihn auch hier verfolgen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/474>, abgerufen am 23.07.2024.