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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Darstellung, die man von dieser Voraussetzung aus zu Stande brächte, hätte
nur für die an Christus Glaubenden Werth. Bringt man hierzu noch die freie
Stellung in Anschlag, welche Schleiermacher bekanntlich zur Frage des Wun¬
ders und der Eingebung der Schrift einnahm, so scheint es, als seien alle Be¬
dingungen für eine rein historische Untersuchung gegeben, aber es scheint auch
nur so. Es gehört zum Begriff einer historischen Untersuchung, daß die Resul¬
tate einzig von dieser selbst abhängig gemacht werden. Ist diese Voraussetzungs-
lofigkeit wirklich die Meinung Schleiermachers? Dürfen wir es, fragt er, wirk¬
lich dahin gestellt sein lassen, ob das Ergebniß unserer Untersuchung unsern
Glauben befestigen oder aufheben wird? Die Antwort lautet: "Wollen wir den
wissenschaftlichen Standpunkt behaupten, so dürfen wir die Untersuchung nicht
scheuen; wollen wir aber Theologen bleiben, so muß die wissenschaftliche Rich¬
tung und der christliche Glaube sich vertragen." Dieses "muß" ist das Bezeich¬
nende, es ist der Schlüssel von Schleiermachers ganzem theologischen Denken.
Der Zwiespalt zwischen dem Glauben und der Wissenschaft darf schlechterdings
nicht zum Ausbruch kommen. "Meine Philosophie." schrieb er einmal an Jacobi,
"und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen; so
lang ich denken kann, haben sie immer gegenseitig an einander gestimmt und
sich auch immer mehr angenähert." Ist aber diese Voraussetzung, daß Glaube
und Wissenschaft stimmen müssen, überhaupt das Charakteristische der schleier-
macherschen Theologie, so war sie für ihn bei der Untersuchung des Lebens
Jesu vollends unerläßlich. Denn hier galt es den Mittelpunkt des ganzen
Systems, den idealen Christus. Entweder er bewährte sich auch auf dem Weg
der historischen Untersuchung, gut, so lieferte die evangelische Geschichte die
willkommene Ergänzung zur Glaubenslehre, oder er bewährte sich nicht, und
dann -- doch nein, diese Seite der Alternative kann gar nicht ausgedacht werden,
sie ist ausgeschlossen schon durch die Prämissen. Glaube und Wissenschaft müssen
auf irgendeine Weise friedlich zusammengebracht werden. So schob sich der
rein historischen Aufgabe unversehens eine ganz andere unter. Was in der
Glaubenslehre aus dem Bedürfniß des frommen Gefühls heraus dogmatisch
ausgestattet worden war. sollte aus den biblischen Quellen auf empirischem
Wege gleichfalls gesunden werden, das Ziel stand von vornherein fest, und dazu
gehörte nun freilich eine eiserne "Entschlossenheit", das Gebilde der complicir-
testen Dialektik, ein Product eigenthümlichster Geistesarbeit des neunzehnten
Jahrhunderts in den einfachen Schriftdenkmälern des ersten und zweiten wieder¬
zufinden.

Schleiermachers idealer Christus ist bekanntlich nicht der Christus der Kirche.
Die Dreieinigkeitslehre hatte für ihn keine Bedeutung. Den Glauben, daß Gott
selbst in Jesus persönlich geworden sei, gab er willig Preis. Jesus war ihm
voller und wahrer Mensch. Und doch wieder nicht voller und wahrer Mensch.


Darstellung, die man von dieser Voraussetzung aus zu Stande brächte, hätte
nur für die an Christus Glaubenden Werth. Bringt man hierzu noch die freie
Stellung in Anschlag, welche Schleiermacher bekanntlich zur Frage des Wun¬
ders und der Eingebung der Schrift einnahm, so scheint es, als seien alle Be¬
dingungen für eine rein historische Untersuchung gegeben, aber es scheint auch
nur so. Es gehört zum Begriff einer historischen Untersuchung, daß die Resul¬
tate einzig von dieser selbst abhängig gemacht werden. Ist diese Voraussetzungs-
lofigkeit wirklich die Meinung Schleiermachers? Dürfen wir es, fragt er, wirk¬
lich dahin gestellt sein lassen, ob das Ergebniß unserer Untersuchung unsern
Glauben befestigen oder aufheben wird? Die Antwort lautet: „Wollen wir den
wissenschaftlichen Standpunkt behaupten, so dürfen wir die Untersuchung nicht
scheuen; wollen wir aber Theologen bleiben, so muß die wissenschaftliche Rich¬
tung und der christliche Glaube sich vertragen." Dieses „muß" ist das Bezeich¬
nende, es ist der Schlüssel von Schleiermachers ganzem theologischen Denken.
Der Zwiespalt zwischen dem Glauben und der Wissenschaft darf schlechterdings
nicht zum Ausbruch kommen. „Meine Philosophie." schrieb er einmal an Jacobi,
»und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen; so
lang ich denken kann, haben sie immer gegenseitig an einander gestimmt und
sich auch immer mehr angenähert." Ist aber diese Voraussetzung, daß Glaube
und Wissenschaft stimmen müssen, überhaupt das Charakteristische der schleier-
macherschen Theologie, so war sie für ihn bei der Untersuchung des Lebens
Jesu vollends unerläßlich. Denn hier galt es den Mittelpunkt des ganzen
Systems, den idealen Christus. Entweder er bewährte sich auch auf dem Weg
der historischen Untersuchung, gut, so lieferte die evangelische Geschichte die
willkommene Ergänzung zur Glaubenslehre, oder er bewährte sich nicht, und
dann — doch nein, diese Seite der Alternative kann gar nicht ausgedacht werden,
sie ist ausgeschlossen schon durch die Prämissen. Glaube und Wissenschaft müssen
auf irgendeine Weise friedlich zusammengebracht werden. So schob sich der
rein historischen Aufgabe unversehens eine ganz andere unter. Was in der
Glaubenslehre aus dem Bedürfniß des frommen Gefühls heraus dogmatisch
ausgestattet worden war. sollte aus den biblischen Quellen auf empirischem
Wege gleichfalls gesunden werden, das Ziel stand von vornherein fest, und dazu
gehörte nun freilich eine eiserne „Entschlossenheit", das Gebilde der complicir-
testen Dialektik, ein Product eigenthümlichster Geistesarbeit des neunzehnten
Jahrhunderts in den einfachen Schriftdenkmälern des ersten und zweiten wieder¬
zufinden.

Schleiermachers idealer Christus ist bekanntlich nicht der Christus der Kirche.
Die Dreieinigkeitslehre hatte für ihn keine Bedeutung. Den Glauben, daß Gott
selbst in Jesus persönlich geworden sei, gab er willig Preis. Jesus war ihm
voller und wahrer Mensch. Und doch wieder nicht voller und wahrer Mensch.


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[0473] Darstellung, die man von dieser Voraussetzung aus zu Stande brächte, hätte nur für die an Christus Glaubenden Werth. Bringt man hierzu noch die freie Stellung in Anschlag, welche Schleiermacher bekanntlich zur Frage des Wun¬ ders und der Eingebung der Schrift einnahm, so scheint es, als seien alle Be¬ dingungen für eine rein historische Untersuchung gegeben, aber es scheint auch nur so. Es gehört zum Begriff einer historischen Untersuchung, daß die Resul¬ tate einzig von dieser selbst abhängig gemacht werden. Ist diese Voraussetzungs- lofigkeit wirklich die Meinung Schleiermachers? Dürfen wir es, fragt er, wirk¬ lich dahin gestellt sein lassen, ob das Ergebniß unserer Untersuchung unsern Glauben befestigen oder aufheben wird? Die Antwort lautet: „Wollen wir den wissenschaftlichen Standpunkt behaupten, so dürfen wir die Untersuchung nicht scheuen; wollen wir aber Theologen bleiben, so muß die wissenschaftliche Rich¬ tung und der christliche Glaube sich vertragen." Dieses „muß" ist das Bezeich¬ nende, es ist der Schlüssel von Schleiermachers ganzem theologischen Denken. Der Zwiespalt zwischen dem Glauben und der Wissenschaft darf schlechterdings nicht zum Ausbruch kommen. „Meine Philosophie." schrieb er einmal an Jacobi, »und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen; so lang ich denken kann, haben sie immer gegenseitig an einander gestimmt und sich auch immer mehr angenähert." Ist aber diese Voraussetzung, daß Glaube und Wissenschaft stimmen müssen, überhaupt das Charakteristische der schleier- macherschen Theologie, so war sie für ihn bei der Untersuchung des Lebens Jesu vollends unerläßlich. Denn hier galt es den Mittelpunkt des ganzen Systems, den idealen Christus. Entweder er bewährte sich auch auf dem Weg der historischen Untersuchung, gut, so lieferte die evangelische Geschichte die willkommene Ergänzung zur Glaubenslehre, oder er bewährte sich nicht, und dann — doch nein, diese Seite der Alternative kann gar nicht ausgedacht werden, sie ist ausgeschlossen schon durch die Prämissen. Glaube und Wissenschaft müssen auf irgendeine Weise friedlich zusammengebracht werden. So schob sich der rein historischen Aufgabe unversehens eine ganz andere unter. Was in der Glaubenslehre aus dem Bedürfniß des frommen Gefühls heraus dogmatisch ausgestattet worden war. sollte aus den biblischen Quellen auf empirischem Wege gleichfalls gesunden werden, das Ziel stand von vornherein fest, und dazu gehörte nun freilich eine eiserne „Entschlossenheit", das Gebilde der complicir- testen Dialektik, ein Product eigenthümlichster Geistesarbeit des neunzehnten Jahrhunderts in den einfachen Schriftdenkmälern des ersten und zweiten wieder¬ zufinden. Schleiermachers idealer Christus ist bekanntlich nicht der Christus der Kirche. Die Dreieinigkeitslehre hatte für ihn keine Bedeutung. Den Glauben, daß Gott selbst in Jesus persönlich geworden sei, gab er willig Preis. Jesus war ihm voller und wahrer Mensch. Und doch wieder nicht voller und wahrer Mensch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/473>, abgerufen am 23.07.2024.