Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sicher war, so war doch unverkennbar, daß durch die Veröffentlichung im jetzigen
Augenblicke nicht blos eine verjährte Schuld abgetragen, sondern zugleich eine
bestimmte Wirkung aus die gegenwärtigen theologischen Kämpfe ausgeübt werden
sollte. Hierzu aber schien die Zeit ebenso ungünstig, als in einer Beziehung
günstig gewählt. Günstig, sofern der Gegenstand selbst eben jetzt das allgemeine
Interesse in Anspruch nahm, und es nur erwünscht sein konnte, die Darstellung
des Meisters, der zum ersten Mal das Leben Jesu zum Gegenstand von Vor¬
lesungen machte, und schon damit seine Stellung auf der Grenzscheide zweier
Zeitalter anzeigt, nunmehr in authentischer Form zu besitzen. Allein es ließ
sich weder ein erheblicher Gewinn für die Arbeiten der Gegenwart absehen,
welche in der That auf ganz neuen Grundlagen, aus neuen Problemen beruhen,
noch konnte es ein Gewinn für das Ansehen des großen Theologen selbst sein,
in eine Debatte gezogen zu werden, welcher er mit den unzulänglichen Mitteln
einer vergangenen Zeit, fast wehrlos gegenüberstand. Es war also doch wesent¬
lich nur ein historisches Interesse, welches sich an die neue Publikation knüpfte,
zumal es bei der Beschaffenheit des Materials, das man im Nachlasse vorfand,
nur in höchst unvollkommener, fast ungenießbarer Form dargeboten werden
konnte. Es erforderte eine besondere historische Stimmung, wie man zum
Genuß eines älteren Kunstwerkes, das etwa im Uebergang zweier Schulen steht,
eine eigene historische Stimmung mitbringen muß.

Freilich wenn man sich einmal in diese Stimmung versetzt hatte, so ent¬
hüllte sich Schritt für Schritt der eigenthümliche Werth des neuen Buches.
Wir meinen nicht die Lichtblicke, die scharfsinnigen Bemerkungen, die über¬
raschenden Combinationen, welche wie Goldkörner im Geröll aus dem krausen,
schwerfälligen Vortrag zu Tage treten. Diese Vorzüge verstehen sich bei Schleier¬
macher von selbst. Aber was besonders anzog, war, daß man von jedem Ab¬
schnitt den Eindruck empfing, man befinde sich einem Werke gegenüber, das
hart auf der Scheide zweier Weltanschauungen steht, und den Kampf, in wel¬
chem eine neue Zeit mit einer alten liegt, wie kein anderes repräsentirt. Wir
sprachen von einem Bild, das die Grenze zweier Kunstweisen bezeichnet. Es
giebt kein interessanteres Studium für den Kenner. Zug für Zug wird er der
Intention des Künstlers nachgehen, wie dieser einem neuen Ideale zustrebt und
doch auf halbem Wege zurückbleibt, hier die Befangenheit der älteren Weise
kühn durchbricht und dort in die alte Gebundenheit zurückfällt. Die Betrachtung
solchen Widerstreits wird ihm selbst den Genuß aufwiegen, den ein in seiner
Art vollendetes Kunstwert gewährt. Genau dies ist der Reiz des schleier-
macherschen Lebens Jesu. Es ist kein Lebe" Jesu, viel weniger als alle die
Bücher, welche seitdem unter diesem Titel erschienen sind.

Es ist eine angestrengte Dialektik, die auf dem Boden der biblischen Ge¬
schichte das Alte und das Neue zu versöhnen sucht, die Anforderungen des


sicher war, so war doch unverkennbar, daß durch die Veröffentlichung im jetzigen
Augenblicke nicht blos eine verjährte Schuld abgetragen, sondern zugleich eine
bestimmte Wirkung aus die gegenwärtigen theologischen Kämpfe ausgeübt werden
sollte. Hierzu aber schien die Zeit ebenso ungünstig, als in einer Beziehung
günstig gewählt. Günstig, sofern der Gegenstand selbst eben jetzt das allgemeine
Interesse in Anspruch nahm, und es nur erwünscht sein konnte, die Darstellung
des Meisters, der zum ersten Mal das Leben Jesu zum Gegenstand von Vor¬
lesungen machte, und schon damit seine Stellung auf der Grenzscheide zweier
Zeitalter anzeigt, nunmehr in authentischer Form zu besitzen. Allein es ließ
sich weder ein erheblicher Gewinn für die Arbeiten der Gegenwart absehen,
welche in der That auf ganz neuen Grundlagen, aus neuen Problemen beruhen,
noch konnte es ein Gewinn für das Ansehen des großen Theologen selbst sein,
in eine Debatte gezogen zu werden, welcher er mit den unzulänglichen Mitteln
einer vergangenen Zeit, fast wehrlos gegenüberstand. Es war also doch wesent¬
lich nur ein historisches Interesse, welches sich an die neue Publikation knüpfte,
zumal es bei der Beschaffenheit des Materials, das man im Nachlasse vorfand,
nur in höchst unvollkommener, fast ungenießbarer Form dargeboten werden
konnte. Es erforderte eine besondere historische Stimmung, wie man zum
Genuß eines älteren Kunstwerkes, das etwa im Uebergang zweier Schulen steht,
eine eigene historische Stimmung mitbringen muß.

Freilich wenn man sich einmal in diese Stimmung versetzt hatte, so ent¬
hüllte sich Schritt für Schritt der eigenthümliche Werth des neuen Buches.
Wir meinen nicht die Lichtblicke, die scharfsinnigen Bemerkungen, die über¬
raschenden Combinationen, welche wie Goldkörner im Geröll aus dem krausen,
schwerfälligen Vortrag zu Tage treten. Diese Vorzüge verstehen sich bei Schleier¬
macher von selbst. Aber was besonders anzog, war, daß man von jedem Ab¬
schnitt den Eindruck empfing, man befinde sich einem Werke gegenüber, das
hart auf der Scheide zweier Weltanschauungen steht, und den Kampf, in wel¬
chem eine neue Zeit mit einer alten liegt, wie kein anderes repräsentirt. Wir
sprachen von einem Bild, das die Grenze zweier Kunstweisen bezeichnet. Es
giebt kein interessanteres Studium für den Kenner. Zug für Zug wird er der
Intention des Künstlers nachgehen, wie dieser einem neuen Ideale zustrebt und
doch auf halbem Wege zurückbleibt, hier die Befangenheit der älteren Weise
kühn durchbricht und dort in die alte Gebundenheit zurückfällt. Die Betrachtung
solchen Widerstreits wird ihm selbst den Genuß aufwiegen, den ein in seiner
Art vollendetes Kunstwert gewährt. Genau dies ist der Reiz des schleier-
macherschen Lebens Jesu. Es ist kein Lebe» Jesu, viel weniger als alle die
Bücher, welche seitdem unter diesem Titel erschienen sind.

Es ist eine angestrengte Dialektik, die auf dem Boden der biblischen Ge¬
schichte das Alte und das Neue zu versöhnen sucht, die Anforderungen des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/282711"/>
          <p xml:id="ID_1276" prev="#ID_1275"> sicher war, so war doch unverkennbar, daß durch die Veröffentlichung im jetzigen<lb/>
Augenblicke nicht blos eine verjährte Schuld abgetragen, sondern zugleich eine<lb/>
bestimmte Wirkung aus die gegenwärtigen theologischen Kämpfe ausgeübt werden<lb/>
sollte. Hierzu aber schien die Zeit ebenso ungünstig, als in einer Beziehung<lb/>
günstig gewählt. Günstig, sofern der Gegenstand selbst eben jetzt das allgemeine<lb/>
Interesse in Anspruch nahm, und es nur erwünscht sein konnte, die Darstellung<lb/>
des Meisters, der zum ersten Mal das Leben Jesu zum Gegenstand von Vor¬<lb/>
lesungen machte, und schon damit seine Stellung auf der Grenzscheide zweier<lb/>
Zeitalter anzeigt, nunmehr in authentischer Form zu besitzen. Allein es ließ<lb/>
sich weder ein erheblicher Gewinn für die Arbeiten der Gegenwart absehen,<lb/>
welche in der That auf ganz neuen Grundlagen, aus neuen Problemen beruhen,<lb/>
noch konnte es ein Gewinn für das Ansehen des großen Theologen selbst sein,<lb/>
in eine Debatte gezogen zu werden, welcher er mit den unzulänglichen Mitteln<lb/>
einer vergangenen Zeit, fast wehrlos gegenüberstand. Es war also doch wesent¬<lb/>
lich nur ein historisches Interesse, welches sich an die neue Publikation knüpfte,<lb/>
zumal es bei der Beschaffenheit des Materials, das man im Nachlasse vorfand,<lb/>
nur in höchst unvollkommener, fast ungenießbarer Form dargeboten werden<lb/>
konnte. Es erforderte eine besondere historische Stimmung, wie man zum<lb/>
Genuß eines älteren Kunstwerkes, das etwa im Uebergang zweier Schulen steht,<lb/>
eine eigene historische Stimmung mitbringen muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1277"> Freilich wenn man sich einmal in diese Stimmung versetzt hatte, so ent¬<lb/>
hüllte sich Schritt für Schritt der eigenthümliche Werth des neuen Buches.<lb/>
Wir meinen nicht die Lichtblicke, die scharfsinnigen Bemerkungen, die über¬<lb/>
raschenden Combinationen, welche wie Goldkörner im Geröll aus dem krausen,<lb/>
schwerfälligen Vortrag zu Tage treten. Diese Vorzüge verstehen sich bei Schleier¬<lb/>
macher von selbst. Aber was besonders anzog, war, daß man von jedem Ab¬<lb/>
schnitt den Eindruck empfing, man befinde sich einem Werke gegenüber, das<lb/>
hart auf der Scheide zweier Weltanschauungen steht, und den Kampf, in wel¬<lb/>
chem eine neue Zeit mit einer alten liegt, wie kein anderes repräsentirt. Wir<lb/>
sprachen von einem Bild, das die Grenze zweier Kunstweisen bezeichnet. Es<lb/>
giebt kein interessanteres Studium für den Kenner. Zug für Zug wird er der<lb/>
Intention des Künstlers nachgehen, wie dieser einem neuen Ideale zustrebt und<lb/>
doch auf halbem Wege zurückbleibt, hier die Befangenheit der älteren Weise<lb/>
kühn durchbricht und dort in die alte Gebundenheit zurückfällt. Die Betrachtung<lb/>
solchen Widerstreits wird ihm selbst den Genuß aufwiegen, den ein in seiner<lb/>
Art vollendetes Kunstwert gewährt. Genau dies ist der Reiz des schleier-<lb/>
macherschen Lebens Jesu. Es ist kein Lebe» Jesu, viel weniger als alle die<lb/>
Bücher, welche seitdem unter diesem Titel erschienen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1278" next="#ID_1279"> Es ist eine angestrengte Dialektik, die auf dem Boden der biblischen Ge¬<lb/>
schichte das Alte und das Neue zu versöhnen sucht, die Anforderungen des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0470] sicher war, so war doch unverkennbar, daß durch die Veröffentlichung im jetzigen Augenblicke nicht blos eine verjährte Schuld abgetragen, sondern zugleich eine bestimmte Wirkung aus die gegenwärtigen theologischen Kämpfe ausgeübt werden sollte. Hierzu aber schien die Zeit ebenso ungünstig, als in einer Beziehung günstig gewählt. Günstig, sofern der Gegenstand selbst eben jetzt das allgemeine Interesse in Anspruch nahm, und es nur erwünscht sein konnte, die Darstellung des Meisters, der zum ersten Mal das Leben Jesu zum Gegenstand von Vor¬ lesungen machte, und schon damit seine Stellung auf der Grenzscheide zweier Zeitalter anzeigt, nunmehr in authentischer Form zu besitzen. Allein es ließ sich weder ein erheblicher Gewinn für die Arbeiten der Gegenwart absehen, welche in der That auf ganz neuen Grundlagen, aus neuen Problemen beruhen, noch konnte es ein Gewinn für das Ansehen des großen Theologen selbst sein, in eine Debatte gezogen zu werden, welcher er mit den unzulänglichen Mitteln einer vergangenen Zeit, fast wehrlos gegenüberstand. Es war also doch wesent¬ lich nur ein historisches Interesse, welches sich an die neue Publikation knüpfte, zumal es bei der Beschaffenheit des Materials, das man im Nachlasse vorfand, nur in höchst unvollkommener, fast ungenießbarer Form dargeboten werden konnte. Es erforderte eine besondere historische Stimmung, wie man zum Genuß eines älteren Kunstwerkes, das etwa im Uebergang zweier Schulen steht, eine eigene historische Stimmung mitbringen muß. Freilich wenn man sich einmal in diese Stimmung versetzt hatte, so ent¬ hüllte sich Schritt für Schritt der eigenthümliche Werth des neuen Buches. Wir meinen nicht die Lichtblicke, die scharfsinnigen Bemerkungen, die über¬ raschenden Combinationen, welche wie Goldkörner im Geröll aus dem krausen, schwerfälligen Vortrag zu Tage treten. Diese Vorzüge verstehen sich bei Schleier¬ macher von selbst. Aber was besonders anzog, war, daß man von jedem Ab¬ schnitt den Eindruck empfing, man befinde sich einem Werke gegenüber, das hart auf der Scheide zweier Weltanschauungen steht, und den Kampf, in wel¬ chem eine neue Zeit mit einer alten liegt, wie kein anderes repräsentirt. Wir sprachen von einem Bild, das die Grenze zweier Kunstweisen bezeichnet. Es giebt kein interessanteres Studium für den Kenner. Zug für Zug wird er der Intention des Künstlers nachgehen, wie dieser einem neuen Ideale zustrebt und doch auf halbem Wege zurückbleibt, hier die Befangenheit der älteren Weise kühn durchbricht und dort in die alte Gebundenheit zurückfällt. Die Betrachtung solchen Widerstreits wird ihm selbst den Genuß aufwiegen, den ein in seiner Art vollendetes Kunstwert gewährt. Genau dies ist der Reiz des schleier- macherschen Lebens Jesu. Es ist kein Lebe» Jesu, viel weniger als alle die Bücher, welche seitdem unter diesem Titel erschienen sind. Es ist eine angestrengte Dialektik, die auf dem Boden der biblischen Ge¬ schichte das Alte und das Neue zu versöhnen sucht, die Anforderungen des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/470
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/470>, abgerufen am 23.07.2024.