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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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letzten Jahrzehnten den Staat dem Zerfallen nahe gebracht hat, selbst zu Trä¬
gern des Einheitsgedankens zu machen, dies Unternehmen ist so riesenhaft, daß
es nur gelingen kann, wenn die gesammte Thätigkeit des Staates auf diesen
einen Punkt sich concentrirt, wenn alles, was zu der Erreichung des erstrebten
Zieles in keiner Beziehung steht, als hemmend und hindernd abgewiesen wird,
so viel der Staat es abzuweisen vermag. Wenn man nun bedenkt, daß Oest¬
reich durch alle Traditionen mehr als irgend ein anderer Staat von allen Punk¬
ten seiner ausgedehnten Peripherie nach den verschiedensten Richtungen hin en-
gagirt ist, daß alle diese Traditionen, wie sie im Lause der Jahrhunderte sich
zu einem bunten Systeme der großen Politik aufgethürmt haben, den Wechsel
der Weltverhältnisse überlebt haben, daß Oestreich der einzige größere Staat
des Kontinents ist, der in einer Periode politischer Neubildungen sein Heil auf
die unveränderte Erhaltung des bestehenden Staatensystems gesetzt hat, so be¬
greift man leicht, daß mit diesem Princip das für die innere Gestaltung deS
Staates angestrebte Ziel schlechterdings in einem unlösbaren Widerspruche steht.
Die allgemeine Ratlosigkeit diesem Widersprüche gegenüber spricht sich in dem
einen Wunsch: Erhaltung des Friedens aus. Gewiß ein nicht blos
durch die verzweifelte Finanzlage gerechtfertigter Wunsch! -- Ein Wunsch,
dem die Erkenntniß zu Grunde liegt, daß jede Verwickelung nach Außen die
centrifugalen Kräfte im Innern ermuthigen und stärken werde. Ist denn
aber das abstracte Friedensbedürfniß schon eine Bürgschaft für die Erhaltung
des Friedens? Beseitigt es die Spannungen und Verwicklungen, die in ihrer
Wirkung auf die inneren Zustände fast eben so drückend und gefährlich sind
als der Krieg selbst? Werden die Feinde des Staates dadurch entwaffnet,
daß man stets wiederholt: Oestreich bedarf des Friedens, Oestreich muß ent-
Waffnen! Man will jeden Conflict vermeiden und vermag es doch nicht
über sich, die Positionen aufzugeben, deren Behauptung einen baldigen Zu¬
sammenstoß mit den Nachbarn fast unvermeidlich macht. Auch kann Oestreich
gar nicht, selbst wenn es wollte, ohne Weiteres alle gefährdeten Stellungen,
die es inne hat, aufgeben. Um so mehr aber muß es bedacht sein, eine
Deckung zu suchen, die seinen Gegnern Achtung einflößt; es muß um jeden
Preis die Beziehungen abbrechen, deren Bestehen wegen ihrer Unvereinbarkeit
Mit der Gesammtstaatsidee nur dazu dient, die particularistischen Hoffnungen
der Stämme jenseits der Lcytha zu ermuthigen.

Es ist ein ganz richtiger Gedanke, daß Oestreich, um der Schwierigkeiten
seiner Lage Herr zu werden, und besonders um sein Verhältniß mit Ungarn
in ordnen, sich aus Deutschland zu stützen hat. Aber gewähren ihm etwa die
^üttelstaaten diese Stütze? Kann ein östreichischer Abgeordneter, der tief durch¬
sungen ist von der Ueberzeugung, daß alles an die Beseitigung des inneren
Conflictes zu setzen sei, wirklich glauben, die Ungarn würden durch ein östreichisch-


letzten Jahrzehnten den Staat dem Zerfallen nahe gebracht hat, selbst zu Trä¬
gern des Einheitsgedankens zu machen, dies Unternehmen ist so riesenhaft, daß
es nur gelingen kann, wenn die gesammte Thätigkeit des Staates auf diesen
einen Punkt sich concentrirt, wenn alles, was zu der Erreichung des erstrebten
Zieles in keiner Beziehung steht, als hemmend und hindernd abgewiesen wird,
so viel der Staat es abzuweisen vermag. Wenn man nun bedenkt, daß Oest¬
reich durch alle Traditionen mehr als irgend ein anderer Staat von allen Punk¬
ten seiner ausgedehnten Peripherie nach den verschiedensten Richtungen hin en-
gagirt ist, daß alle diese Traditionen, wie sie im Lause der Jahrhunderte sich
zu einem bunten Systeme der großen Politik aufgethürmt haben, den Wechsel
der Weltverhältnisse überlebt haben, daß Oestreich der einzige größere Staat
des Kontinents ist, der in einer Periode politischer Neubildungen sein Heil auf
die unveränderte Erhaltung des bestehenden Staatensystems gesetzt hat, so be¬
greift man leicht, daß mit diesem Princip das für die innere Gestaltung deS
Staates angestrebte Ziel schlechterdings in einem unlösbaren Widerspruche steht.
Die allgemeine Ratlosigkeit diesem Widersprüche gegenüber spricht sich in dem
einen Wunsch: Erhaltung des Friedens aus. Gewiß ein nicht blos
durch die verzweifelte Finanzlage gerechtfertigter Wunsch! — Ein Wunsch,
dem die Erkenntniß zu Grunde liegt, daß jede Verwickelung nach Außen die
centrifugalen Kräfte im Innern ermuthigen und stärken werde. Ist denn
aber das abstracte Friedensbedürfniß schon eine Bürgschaft für die Erhaltung
des Friedens? Beseitigt es die Spannungen und Verwicklungen, die in ihrer
Wirkung auf die inneren Zustände fast eben so drückend und gefährlich sind
als der Krieg selbst? Werden die Feinde des Staates dadurch entwaffnet,
daß man stets wiederholt: Oestreich bedarf des Friedens, Oestreich muß ent-
Waffnen! Man will jeden Conflict vermeiden und vermag es doch nicht
über sich, die Positionen aufzugeben, deren Behauptung einen baldigen Zu¬
sammenstoß mit den Nachbarn fast unvermeidlich macht. Auch kann Oestreich
gar nicht, selbst wenn es wollte, ohne Weiteres alle gefährdeten Stellungen,
die es inne hat, aufgeben. Um so mehr aber muß es bedacht sein, eine
Deckung zu suchen, die seinen Gegnern Achtung einflößt; es muß um jeden
Preis die Beziehungen abbrechen, deren Bestehen wegen ihrer Unvereinbarkeit
Mit der Gesammtstaatsidee nur dazu dient, die particularistischen Hoffnungen
der Stämme jenseits der Lcytha zu ermuthigen.

Es ist ein ganz richtiger Gedanke, daß Oestreich, um der Schwierigkeiten
seiner Lage Herr zu werden, und besonders um sein Verhältniß mit Ungarn
in ordnen, sich aus Deutschland zu stützen hat. Aber gewähren ihm etwa die
^üttelstaaten diese Stütze? Kann ein östreichischer Abgeordneter, der tief durch¬
sungen ist von der Ueberzeugung, daß alles an die Beseitigung des inneren
Conflictes zu setzen sei, wirklich glauben, die Ungarn würden durch ein östreichisch-


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[0407] letzten Jahrzehnten den Staat dem Zerfallen nahe gebracht hat, selbst zu Trä¬ gern des Einheitsgedankens zu machen, dies Unternehmen ist so riesenhaft, daß es nur gelingen kann, wenn die gesammte Thätigkeit des Staates auf diesen einen Punkt sich concentrirt, wenn alles, was zu der Erreichung des erstrebten Zieles in keiner Beziehung steht, als hemmend und hindernd abgewiesen wird, so viel der Staat es abzuweisen vermag. Wenn man nun bedenkt, daß Oest¬ reich durch alle Traditionen mehr als irgend ein anderer Staat von allen Punk¬ ten seiner ausgedehnten Peripherie nach den verschiedensten Richtungen hin en- gagirt ist, daß alle diese Traditionen, wie sie im Lause der Jahrhunderte sich zu einem bunten Systeme der großen Politik aufgethürmt haben, den Wechsel der Weltverhältnisse überlebt haben, daß Oestreich der einzige größere Staat des Kontinents ist, der in einer Periode politischer Neubildungen sein Heil auf die unveränderte Erhaltung des bestehenden Staatensystems gesetzt hat, so be¬ greift man leicht, daß mit diesem Princip das für die innere Gestaltung deS Staates angestrebte Ziel schlechterdings in einem unlösbaren Widerspruche steht. Die allgemeine Ratlosigkeit diesem Widersprüche gegenüber spricht sich in dem einen Wunsch: Erhaltung des Friedens aus. Gewiß ein nicht blos durch die verzweifelte Finanzlage gerechtfertigter Wunsch! — Ein Wunsch, dem die Erkenntniß zu Grunde liegt, daß jede Verwickelung nach Außen die centrifugalen Kräfte im Innern ermuthigen und stärken werde. Ist denn aber das abstracte Friedensbedürfniß schon eine Bürgschaft für die Erhaltung des Friedens? Beseitigt es die Spannungen und Verwicklungen, die in ihrer Wirkung auf die inneren Zustände fast eben so drückend und gefährlich sind als der Krieg selbst? Werden die Feinde des Staates dadurch entwaffnet, daß man stets wiederholt: Oestreich bedarf des Friedens, Oestreich muß ent- Waffnen! Man will jeden Conflict vermeiden und vermag es doch nicht über sich, die Positionen aufzugeben, deren Behauptung einen baldigen Zu¬ sammenstoß mit den Nachbarn fast unvermeidlich macht. Auch kann Oestreich gar nicht, selbst wenn es wollte, ohne Weiteres alle gefährdeten Stellungen, die es inne hat, aufgeben. Um so mehr aber muß es bedacht sein, eine Deckung zu suchen, die seinen Gegnern Achtung einflößt; es muß um jeden Preis die Beziehungen abbrechen, deren Bestehen wegen ihrer Unvereinbarkeit Mit der Gesammtstaatsidee nur dazu dient, die particularistischen Hoffnungen der Stämme jenseits der Lcytha zu ermuthigen. Es ist ein ganz richtiger Gedanke, daß Oestreich, um der Schwierigkeiten seiner Lage Herr zu werden, und besonders um sein Verhältniß mit Ungarn in ordnen, sich aus Deutschland zu stützen hat. Aber gewähren ihm etwa die ^üttelstaaten diese Stütze? Kann ein östreichischer Abgeordneter, der tief durch¬ sungen ist von der Ueberzeugung, daß alles an die Beseitigung des inneren Conflictes zu setzen sei, wirklich glauben, die Ungarn würden durch ein östreichisch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/407>, abgerufen am 23.07.2024.