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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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gierung wenig Aussicht, sie zur Nachgiebigkeit und zu einem der angestrebten
Reichseinheit entsprechenden Vergleiche zu bewegen.

Daß die entschiedene Linke mit Ungarn möglichst bald zum Abschluß zu
kommen wünscht, ist selbstverständlich; nicht blos im Interesse der Reichscin-
heit, sondern vor allem im Interesse der Freiheit und der Verwirklichung
der Verfassung. Denn es läßt sich durchaus nichts dagegen einwenden, wenn
die Regierung erklärt, sie könne mit der Gesetzgebung, soweit sie sick auf die
Entwickelung der Verfassung bezieht, nicht eher vorgehen, als bis die Ungarn
in den Reichsrath eingetreten seien. Will die liberale Partei den verfassungs¬
mäßigen Fortschritt, so muß sie suchen, das Zauberwort zu finden, das die
Ungarn ins wiener Parlament lockt. Dazu kommt noch ein anderes wichtiges
Moment: die liberale Partei wird ohne die Unterstützung der Magyaren nie¬
mals dahin kommen, eine selbständige, auf den Gang der Geschicke Oestreichs
Einfluß übende Macht zu werden, ja sie darf in ihrer jetzigen Jsolirung gar
nicht einmal den Versuch wagen, ihre Ansichten dem Ministerium gegenüber
um jeden Preis zur Geltung zu bringen. Denn sie darf nicht einen Augen¬
blick vergessen, daß, wenn sie Herrn v. Schmerling das Regieren unmöglich macht,
sie damit nur der Reaction in die Hände arbeiten würde*). Daher bedürfen
die östreichischen Liberalen der Ungarn nicht minder, um die Verfassung zur
Wahrheit zu machen, wie der Verfassungsminister ihrer bedarf, um den Bau
der Reichseinheit zu vollenden.

Daß gerade diese Erwägungen die Liberalen wirklich bereits bestimmen,
ist allerdings zu bezweifeln. Die Ansichten sind noch völlig ungeklärt; der
Schwierigkeiten der Frage, der Consequenzen dieses oder jenes Versuches zu,
ihrer Lösung, des Zusammenhanges, in dem alle Verwickelungen der Monarchie
zu einander stehen, ist man sich noch kaum bewußt. Wie denkt man sich die
weitere Entwickelung, wie wünscht man sie? Sollen die beiden engeren Körper¬
schaften, soll der weitere Reichsrath der Sitz und Brennpunkt der freiheitlichen
Bestrebungen werden, sollen der Westen und Osten des Reiches ihre besonderen
Wege gehen, oder soll das Centralorgan der Träger der Vefassung werden,
und allmälig die Bedeutung der particulären Körperschaften Herabdrücken und
ihre Functionen absorbiren? Ueber alle diese Fragen hat sich eine entschiedene
Meinung inerhalb der liberalen Partei noch nicht herausgearbeitet. Centrali-
stische und autonomistische Ansichten wogen bunt durcheinander. Die Einsicht,
daß, wenn es nicht gelingt, die Sonderparlamente unter die Herrschaft der Cen-
tralgewalt und der Gesammtvertretung zu beugen, ein Dualismus eintreten



*) Einen Conflict, wie er in Preußen seit einigen Jahren besteht, würde die östreichische
Verfassung in dem gegenwärtige" Stadium ihrer Entwicklung nicht ertrage" können; sie würde
darüber zu Grunde gehen.

gierung wenig Aussicht, sie zur Nachgiebigkeit und zu einem der angestrebten
Reichseinheit entsprechenden Vergleiche zu bewegen.

Daß die entschiedene Linke mit Ungarn möglichst bald zum Abschluß zu
kommen wünscht, ist selbstverständlich; nicht blos im Interesse der Reichscin-
heit, sondern vor allem im Interesse der Freiheit und der Verwirklichung
der Verfassung. Denn es läßt sich durchaus nichts dagegen einwenden, wenn
die Regierung erklärt, sie könne mit der Gesetzgebung, soweit sie sick auf die
Entwickelung der Verfassung bezieht, nicht eher vorgehen, als bis die Ungarn
in den Reichsrath eingetreten seien. Will die liberale Partei den verfassungs¬
mäßigen Fortschritt, so muß sie suchen, das Zauberwort zu finden, das die
Ungarn ins wiener Parlament lockt. Dazu kommt noch ein anderes wichtiges
Moment: die liberale Partei wird ohne die Unterstützung der Magyaren nie¬
mals dahin kommen, eine selbständige, auf den Gang der Geschicke Oestreichs
Einfluß übende Macht zu werden, ja sie darf in ihrer jetzigen Jsolirung gar
nicht einmal den Versuch wagen, ihre Ansichten dem Ministerium gegenüber
um jeden Preis zur Geltung zu bringen. Denn sie darf nicht einen Augen¬
blick vergessen, daß, wenn sie Herrn v. Schmerling das Regieren unmöglich macht,
sie damit nur der Reaction in die Hände arbeiten würde*). Daher bedürfen
die östreichischen Liberalen der Ungarn nicht minder, um die Verfassung zur
Wahrheit zu machen, wie der Verfassungsminister ihrer bedarf, um den Bau
der Reichseinheit zu vollenden.

Daß gerade diese Erwägungen die Liberalen wirklich bereits bestimmen,
ist allerdings zu bezweifeln. Die Ansichten sind noch völlig ungeklärt; der
Schwierigkeiten der Frage, der Consequenzen dieses oder jenes Versuches zu,
ihrer Lösung, des Zusammenhanges, in dem alle Verwickelungen der Monarchie
zu einander stehen, ist man sich noch kaum bewußt. Wie denkt man sich die
weitere Entwickelung, wie wünscht man sie? Sollen die beiden engeren Körper¬
schaften, soll der weitere Reichsrath der Sitz und Brennpunkt der freiheitlichen
Bestrebungen werden, sollen der Westen und Osten des Reiches ihre besonderen
Wege gehen, oder soll das Centralorgan der Träger der Vefassung werden,
und allmälig die Bedeutung der particulären Körperschaften Herabdrücken und
ihre Functionen absorbiren? Ueber alle diese Fragen hat sich eine entschiedene
Meinung inerhalb der liberalen Partei noch nicht herausgearbeitet. Centrali-
stische und autonomistische Ansichten wogen bunt durcheinander. Die Einsicht,
daß, wenn es nicht gelingt, die Sonderparlamente unter die Herrschaft der Cen-
tralgewalt und der Gesammtvertretung zu beugen, ein Dualismus eintreten



*) Einen Conflict, wie er in Preußen seit einigen Jahren besteht, würde die östreichische
Verfassung in dem gegenwärtige» Stadium ihrer Entwicklung nicht ertrage» können; sie würde
darüber zu Grunde gehen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/402>, abgerufen am 23.07.2024.