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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Meute der früheren in sich aufnimmt, welche noch lebensfähig sind und für
die neuen Bedürfnisse, sich verwerthen oder weiterbilden lassen. So gebraucht
also jeder neue Stil frühere Formen, aber nicht mit launenhafter Auswahl
und mit kenntnißloser, ihre structive Bedeutung verkehrender Willkür, wie
die jüngste Münchener Architektur. Sondern er knüpft in geschichtlichem Zu.
sammenhang und nach dem Gesetz aller naturgemäßen Entwicklung an den
letzten der entwickelten Stile an. der ja alle früheren gleichsam im Auszuge
enthält, um guf ihm weiter zu bauen, mit seinen Mitteln den für die neuen
Zwecke passenden Raum zu gestalten, wobei sich dann die schöpferische Umbil-
dung von selbst ergiebt. So der griechische Stil an den chaldäo-assyrischen und
den ägyptischen, der römische an den griechischen, der byzantinische und roma¬
nische an den römischen, der saracenische -- in dem zugleich orientalische Motive
erhalten sind -- an den römischen und byzantinischen, der gothische an den
romanischen und saracenischen. Im Wesen der gothischen Bauart -- von
der im nächsten Artikel noch die Rede sein wird -- lag es, daß sie ganz auf-
gehend in die nothwendigen Folgen ihrer structiven Grundsätze, sich in sich
selber abschloß und vollendete. Alle ihre Formen sind nicht blos der Ausdruck
des structiven Gerüstes. sondern dieses selber die nackte Erscheinung der mathe¬
matischen Struktur; der künstlerische Schmuck aber ganz von diesen Formen ab¬
hängig oder eine ihnen nur äußerlich angeheftete Zierde (z. B. das Laubwerk
-M den Kapitälen der Bündelpfeiler). So durchaus in sich fertig und sein
Leben gleichsam in sich selber bis zum letzten Athemzuge verzehrend ließ sich der
gothische Stil in eine andere Bauweise nicht überführen und schnitt daher nach
der einen Seite, als der letzte abschließende Ausdruck des kirchlich-christlichen
Mistes, die Entwicklung ab.

Zugleich verlor, als der Stil seine Blüthezeit eben hinter sich hatte, die
kirchliche Lebensform die weltbestimmende Macht, die sie bis dahin ausgeübt.
Die individuellen Kräfte und Neigungen des menschlichen Geistes erwachten
Und warfen die lastende, alle gleichmäßig einschnürende Decke des hierarchischen
Systems ab. Der Bruch mit dem Mittelalter, den so im religiösen Bewußtsein
die neuanhebende Zeit Vollzog, war nur der entscheidende Ausschlag einer weit¬
greifenden Bewegung, mit welcher der aufstrebende Geist von der Fessel der
Autorität, die ihn sich selber entfremdet und mit der Natur in Zwiespalt ge¬
bracht hatte, sich losriß. In der Gesittung, in Wissenschaft und Kunst war
der Umschwung, wenn auch mit leiseren Schritt, schon eingetreten, ehe er um¬
wälzend 5as religiöse Leben ergriff. In diesen Gebieten des Daseins warf
schon früher der frische Trieb individueller Selbständigkeit die hergebrachten
Satzungen ab. die sich zu leblosen Typen allmälig verfestigt hatten; der
wieder mit sich vertraute Geist stellte sich auf seine eigenen Füße und ergriff
^gleich von dieser Welt mit heiterem Selbstgefühl Besitz. Dieses neue


Grenzboten I, 18K6,

Meute der früheren in sich aufnimmt, welche noch lebensfähig sind und für
die neuen Bedürfnisse, sich verwerthen oder weiterbilden lassen. So gebraucht
also jeder neue Stil frühere Formen, aber nicht mit launenhafter Auswahl
und mit kenntnißloser, ihre structive Bedeutung verkehrender Willkür, wie
die jüngste Münchener Architektur. Sondern er knüpft in geschichtlichem Zu.
sammenhang und nach dem Gesetz aller naturgemäßen Entwicklung an den
letzten der entwickelten Stile an. der ja alle früheren gleichsam im Auszuge
enthält, um guf ihm weiter zu bauen, mit seinen Mitteln den für die neuen
Zwecke passenden Raum zu gestalten, wobei sich dann die schöpferische Umbil-
dung von selbst ergiebt. So der griechische Stil an den chaldäo-assyrischen und
den ägyptischen, der römische an den griechischen, der byzantinische und roma¬
nische an den römischen, der saracenische — in dem zugleich orientalische Motive
erhalten sind — an den römischen und byzantinischen, der gothische an den
romanischen und saracenischen. Im Wesen der gothischen Bauart — von
der im nächsten Artikel noch die Rede sein wird — lag es, daß sie ganz auf-
gehend in die nothwendigen Folgen ihrer structiven Grundsätze, sich in sich
selber abschloß und vollendete. Alle ihre Formen sind nicht blos der Ausdruck
des structiven Gerüstes. sondern dieses selber die nackte Erscheinung der mathe¬
matischen Struktur; der künstlerische Schmuck aber ganz von diesen Formen ab¬
hängig oder eine ihnen nur äußerlich angeheftete Zierde (z. B. das Laubwerk
-M den Kapitälen der Bündelpfeiler). So durchaus in sich fertig und sein
Leben gleichsam in sich selber bis zum letzten Athemzuge verzehrend ließ sich der
gothische Stil in eine andere Bauweise nicht überführen und schnitt daher nach
der einen Seite, als der letzte abschließende Ausdruck des kirchlich-christlichen
Mistes, die Entwicklung ab.

Zugleich verlor, als der Stil seine Blüthezeit eben hinter sich hatte, die
kirchliche Lebensform die weltbestimmende Macht, die sie bis dahin ausgeübt.
Die individuellen Kräfte und Neigungen des menschlichen Geistes erwachten
Und warfen die lastende, alle gleichmäßig einschnürende Decke des hierarchischen
Systems ab. Der Bruch mit dem Mittelalter, den so im religiösen Bewußtsein
die neuanhebende Zeit Vollzog, war nur der entscheidende Ausschlag einer weit¬
greifenden Bewegung, mit welcher der aufstrebende Geist von der Fessel der
Autorität, die ihn sich selber entfremdet und mit der Natur in Zwiespalt ge¬
bracht hatte, sich losriß. In der Gesittung, in Wissenschaft und Kunst war
der Umschwung, wenn auch mit leiseren Schritt, schon eingetreten, ehe er um¬
wälzend 5as religiöse Leben ergriff. In diesen Gebieten des Daseins warf
schon früher der frische Trieb individueller Selbständigkeit die hergebrachten
Satzungen ab. die sich zu leblosen Typen allmälig verfestigt hatten; der
wieder mit sich vertraute Geist stellte sich auf seine eigenen Füße und ergriff
^gleich von dieser Welt mit heiterem Selbstgefühl Besitz. Dieses neue


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[0367] Meute der früheren in sich aufnimmt, welche noch lebensfähig sind und für die neuen Bedürfnisse, sich verwerthen oder weiterbilden lassen. So gebraucht also jeder neue Stil frühere Formen, aber nicht mit launenhafter Auswahl und mit kenntnißloser, ihre structive Bedeutung verkehrender Willkür, wie die jüngste Münchener Architektur. Sondern er knüpft in geschichtlichem Zu. sammenhang und nach dem Gesetz aller naturgemäßen Entwicklung an den letzten der entwickelten Stile an. der ja alle früheren gleichsam im Auszuge enthält, um guf ihm weiter zu bauen, mit seinen Mitteln den für die neuen Zwecke passenden Raum zu gestalten, wobei sich dann die schöpferische Umbil- dung von selbst ergiebt. So der griechische Stil an den chaldäo-assyrischen und den ägyptischen, der römische an den griechischen, der byzantinische und roma¬ nische an den römischen, der saracenische — in dem zugleich orientalische Motive erhalten sind — an den römischen und byzantinischen, der gothische an den romanischen und saracenischen. Im Wesen der gothischen Bauart — von der im nächsten Artikel noch die Rede sein wird — lag es, daß sie ganz auf- gehend in die nothwendigen Folgen ihrer structiven Grundsätze, sich in sich selber abschloß und vollendete. Alle ihre Formen sind nicht blos der Ausdruck des structiven Gerüstes. sondern dieses selber die nackte Erscheinung der mathe¬ matischen Struktur; der künstlerische Schmuck aber ganz von diesen Formen ab¬ hängig oder eine ihnen nur äußerlich angeheftete Zierde (z. B. das Laubwerk -M den Kapitälen der Bündelpfeiler). So durchaus in sich fertig und sein Leben gleichsam in sich selber bis zum letzten Athemzuge verzehrend ließ sich der gothische Stil in eine andere Bauweise nicht überführen und schnitt daher nach der einen Seite, als der letzte abschließende Ausdruck des kirchlich-christlichen Mistes, die Entwicklung ab. Zugleich verlor, als der Stil seine Blüthezeit eben hinter sich hatte, die kirchliche Lebensform die weltbestimmende Macht, die sie bis dahin ausgeübt. Die individuellen Kräfte und Neigungen des menschlichen Geistes erwachten Und warfen die lastende, alle gleichmäßig einschnürende Decke des hierarchischen Systems ab. Der Bruch mit dem Mittelalter, den so im religiösen Bewußtsein die neuanhebende Zeit Vollzog, war nur der entscheidende Ausschlag einer weit¬ greifenden Bewegung, mit welcher der aufstrebende Geist von der Fessel der Autorität, die ihn sich selber entfremdet und mit der Natur in Zwiespalt ge¬ bracht hatte, sich losriß. In der Gesittung, in Wissenschaft und Kunst war der Umschwung, wenn auch mit leiseren Schritt, schon eingetreten, ehe er um¬ wälzend 5as religiöse Leben ergriff. In diesen Gebieten des Daseins warf schon früher der frische Trieb individueller Selbständigkeit die hergebrachten Satzungen ab. die sich zu leblosen Typen allmälig verfestigt hatten; der wieder mit sich vertraute Geist stellte sich auf seine eigenen Füße und ergriff ^gleich von dieser Welt mit heiterem Selbstgefühl Besitz. Dieses neue Grenzboten I, 18K6,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/367>, abgerufen am 23.07.2024.