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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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sondern zugleich von der Fessel des Zwecks sich loszulösen, indem sie ihn durch
den Mund der Schwesterkünste offen ausspricht. Deshalb fühlte sich die Bau¬
kunst auf dem Gipfel ihrer classischen Entwicklung, die griechische, sowohl
von der Strenge der Construction als von der Last des Stofflichen so voll¬
kommen befreit, daß sie das solide, mit der größten Feinheit ausgearbeitete
Gemäuer, mit dem sie doch hätte prahlen können, ganz in die schmückende
Kunstform hüllte (das Princip der Bekleidung, von Semper treffend hervor¬
gehoben) und unter dieser die Anstrengung der structiven Mittel, der Steinfugen
und des Baustoffes vollständig verschwinden ließ. Hatte sie aber so das blinde
Gesetz der Materie überwunden, so führte sie es zu freier lebendiger Erscheinung
w die künstlerische Form zurück. In dieser sprach es sich aus wie die freie
Thätigkeit der belebten Natur -- z. B. im Kapital der Säule und in den Ge¬
simsen des Gebälkes -- und so war jene Architektur im eigentlichen Sinn des
oft mißbrauchten Wortes wahrhaft organisch. So ringt sich durchweg die Bau-
kunst aus dem Zwang der Materie in das organische Leben hinauf, während
sie doch zu ihrer Gesetzmäßigkeit sich frei bekennt. Darnach begreift sich der
Ausspruch Michelangelos, daß nur. wer die Anatomie kenne, im Stande sei,
sich einen Begriff von der inneren Nothwendigkeit eines architektonischen Planes
ZU machen. Dieser wunderbare Einklang von freier Bewegung, mathematischer
Strenge und innerer Nöthigung war es wohl, der Schlegel auf den Vergleich
der Architektur mit einer gefrorenen Musik brachte. Ein Ausdruck, der auch
insofern nicht unpassend scheint, als wie in der Musik eine unfaßbare Empfindung,
so in der Baukunst die dunkel in der Seele des Volkes schwebende Gesammt-
stimmung sich kundgiebt.

Doch von allen diesen Bedingungen der wahren Architektur hat sich der
"Moderne Stil" kurzer Hand losgesagt. Er hat es eigens darauf abgesehen,
w seinen Formen alle Gesetze zu verläugnen. Aber auch alle. Zunächst das
geschichtlichen Entwicklung. Da er die Erfindung einiger müßigen
Köpfe ist. so ist es nicht seine Sache, den Charakter des modernen Gesammt-
lebens auszusprechen noch an den letzten der ausgebildeten Stile, den uns die
Vergangenheit überliefert. anzuknüpfen. Beides geht in der echten Architektur
immer Hand in Hand; denn wie der neue Weltzustand aus dem vorhergegangenen
sich herausgearbeitet hat. so nimmt die neue Bauart die Elemente der früheren
sich auf, um sie im Geiste des neuen Zeitalters fort-und umzubilden. Hätte
der neue Stil eine Ahnung von den wesentlichen Zügen der Gegenwart, so
KUrde er nicht mit einem Nationalgefühl. das mit patriotischer Beschränktheit
gerade da sich auswirft, wo es am wenigsten am Platze ist. der Kunst der
Renaissance als einer fremdländischen den Rücken kehren. Er greift lieber zu
^Manischen und gothische" Formen zurück, die doch allein im System
^ ganz auf das Innere sich werfenden Kirchenbaues Bedeutung und Ausdruck


sondern zugleich von der Fessel des Zwecks sich loszulösen, indem sie ihn durch
den Mund der Schwesterkünste offen ausspricht. Deshalb fühlte sich die Bau¬
kunst auf dem Gipfel ihrer classischen Entwicklung, die griechische, sowohl
von der Strenge der Construction als von der Last des Stofflichen so voll¬
kommen befreit, daß sie das solide, mit der größten Feinheit ausgearbeitete
Gemäuer, mit dem sie doch hätte prahlen können, ganz in die schmückende
Kunstform hüllte (das Princip der Bekleidung, von Semper treffend hervor¬
gehoben) und unter dieser die Anstrengung der structiven Mittel, der Steinfugen
und des Baustoffes vollständig verschwinden ließ. Hatte sie aber so das blinde
Gesetz der Materie überwunden, so führte sie es zu freier lebendiger Erscheinung
w die künstlerische Form zurück. In dieser sprach es sich aus wie die freie
Thätigkeit der belebten Natur — z. B. im Kapital der Säule und in den Ge¬
simsen des Gebälkes — und so war jene Architektur im eigentlichen Sinn des
oft mißbrauchten Wortes wahrhaft organisch. So ringt sich durchweg die Bau-
kunst aus dem Zwang der Materie in das organische Leben hinauf, während
sie doch zu ihrer Gesetzmäßigkeit sich frei bekennt. Darnach begreift sich der
Ausspruch Michelangelos, daß nur. wer die Anatomie kenne, im Stande sei,
sich einen Begriff von der inneren Nothwendigkeit eines architektonischen Planes
ZU machen. Dieser wunderbare Einklang von freier Bewegung, mathematischer
Strenge und innerer Nöthigung war es wohl, der Schlegel auf den Vergleich
der Architektur mit einer gefrorenen Musik brachte. Ein Ausdruck, der auch
insofern nicht unpassend scheint, als wie in der Musik eine unfaßbare Empfindung,
so in der Baukunst die dunkel in der Seele des Volkes schwebende Gesammt-
stimmung sich kundgiebt.

Doch von allen diesen Bedingungen der wahren Architektur hat sich der
»Moderne Stil" kurzer Hand losgesagt. Er hat es eigens darauf abgesehen,
w seinen Formen alle Gesetze zu verläugnen. Aber auch alle. Zunächst das
geschichtlichen Entwicklung. Da er die Erfindung einiger müßigen
Köpfe ist. so ist es nicht seine Sache, den Charakter des modernen Gesammt-
lebens auszusprechen noch an den letzten der ausgebildeten Stile, den uns die
Vergangenheit überliefert. anzuknüpfen. Beides geht in der echten Architektur
immer Hand in Hand; denn wie der neue Weltzustand aus dem vorhergegangenen
sich herausgearbeitet hat. so nimmt die neue Bauart die Elemente der früheren
sich auf, um sie im Geiste des neuen Zeitalters fort-und umzubilden. Hätte
der neue Stil eine Ahnung von den wesentlichen Zügen der Gegenwart, so
KUrde er nicht mit einem Nationalgefühl. das mit patriotischer Beschränktheit
gerade da sich auswirft, wo es am wenigsten am Platze ist. der Kunst der
Renaissance als einer fremdländischen den Rücken kehren. Er greift lieber zu
^Manischen und gothische» Formen zurück, die doch allein im System
^ ganz auf das Innere sich werfenden Kirchenbaues Bedeutung und Ausdruck


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[0363] sondern zugleich von der Fessel des Zwecks sich loszulösen, indem sie ihn durch den Mund der Schwesterkünste offen ausspricht. Deshalb fühlte sich die Bau¬ kunst auf dem Gipfel ihrer classischen Entwicklung, die griechische, sowohl von der Strenge der Construction als von der Last des Stofflichen so voll¬ kommen befreit, daß sie das solide, mit der größten Feinheit ausgearbeitete Gemäuer, mit dem sie doch hätte prahlen können, ganz in die schmückende Kunstform hüllte (das Princip der Bekleidung, von Semper treffend hervor¬ gehoben) und unter dieser die Anstrengung der structiven Mittel, der Steinfugen und des Baustoffes vollständig verschwinden ließ. Hatte sie aber so das blinde Gesetz der Materie überwunden, so führte sie es zu freier lebendiger Erscheinung w die künstlerische Form zurück. In dieser sprach es sich aus wie die freie Thätigkeit der belebten Natur — z. B. im Kapital der Säule und in den Ge¬ simsen des Gebälkes — und so war jene Architektur im eigentlichen Sinn des oft mißbrauchten Wortes wahrhaft organisch. So ringt sich durchweg die Bau- kunst aus dem Zwang der Materie in das organische Leben hinauf, während sie doch zu ihrer Gesetzmäßigkeit sich frei bekennt. Darnach begreift sich der Ausspruch Michelangelos, daß nur. wer die Anatomie kenne, im Stande sei, sich einen Begriff von der inneren Nothwendigkeit eines architektonischen Planes ZU machen. Dieser wunderbare Einklang von freier Bewegung, mathematischer Strenge und innerer Nöthigung war es wohl, der Schlegel auf den Vergleich der Architektur mit einer gefrorenen Musik brachte. Ein Ausdruck, der auch insofern nicht unpassend scheint, als wie in der Musik eine unfaßbare Empfindung, so in der Baukunst die dunkel in der Seele des Volkes schwebende Gesammt- stimmung sich kundgiebt. Doch von allen diesen Bedingungen der wahren Architektur hat sich der »Moderne Stil" kurzer Hand losgesagt. Er hat es eigens darauf abgesehen, w seinen Formen alle Gesetze zu verläugnen. Aber auch alle. Zunächst das geschichtlichen Entwicklung. Da er die Erfindung einiger müßigen Köpfe ist. so ist es nicht seine Sache, den Charakter des modernen Gesammt- lebens auszusprechen noch an den letzten der ausgebildeten Stile, den uns die Vergangenheit überliefert. anzuknüpfen. Beides geht in der echten Architektur immer Hand in Hand; denn wie der neue Weltzustand aus dem vorhergegangenen sich herausgearbeitet hat. so nimmt die neue Bauart die Elemente der früheren sich auf, um sie im Geiste des neuen Zeitalters fort-und umzubilden. Hätte der neue Stil eine Ahnung von den wesentlichen Zügen der Gegenwart, so KUrde er nicht mit einem Nationalgefühl. das mit patriotischer Beschränktheit gerade da sich auswirft, wo es am wenigsten am Platze ist. der Kunst der Renaissance als einer fremdländischen den Rücken kehren. Er greift lieber zu ^Manischen und gothische» Formen zurück, die doch allein im System ^ ganz auf das Innere sich werfenden Kirchenbaues Bedeutung und Ausdruck

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/363>, abgerufen am 23.07.2024.