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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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ganz erfüllt, in seinem Bewußtsein für die Kunst keinen Raum hatte, diese
aus anderen Bildungsschichten, Zeiten und Völkern in sich aufnehmen, um die
Denkart wie das Schicksal der Menschheit umbilden zu können. Die Kunst ist
ebenso eine allgemeine Lebensform, wie sie ein der Seele eingeborenes Be¬
dürfniß ist, und so unterliegt sie den allgemeinen Gesetzen jedes lebendigen
Werdens wie denen des menschlichen Geistes und der geschichtlichen Ent¬
wickelung.

Vorab hat die Architektur, gebunden einerseits an die Bedingungen sowohl
des Stoffs als der Zweckbestimmung, andrerseits an die eigenthümliche Phan¬
tasie und Stimmung des gleichzeitigen Geschlechts, auch als Kunst diese innere
Nothwendigkeit in ihren Formen auszuprägen. Gerade sie ist insofern die Basis
aller Kunst, der feste monumentale Rahmen, welcher das ganze ideale Dasein
in sich schließt, als sie auf dem unverwüstlichen Grunde innerer Gesetzmäßigkeit
ruht und nur von diesem aus zur freien Bewegung, zum ungezwungenen Schein
des Lebens sich aufschwingt. Sie giebt den bildenden Künsten das Vorbild für
die Ruhe und den Einklang einer wohlgemessenen Anordnung; von ihr auch
geht in die Phantasie des von ihren Kunstwerken umgebenen Volkes unmerklich
Klarheit, Halt und Zusammenhang über. "Die Bürger einer wohlgebauten
Stadt," sagt einmal Goethe -- an dessen Ausspruch sich zu erinnern freilich
jetzt schon Manche für altfränkisch halten -- "wandeln und weben zwischen
ewigen Melodien, der Geist kann nicht sinken, die Thätigkeit nicht einschlafen,
und am gemeinsten Tage fühlen sie sich in einem ideellen Zustand; ohne Re¬
flexion, ohne nach dem Ursprung zu fragen, werden sie des höchsten sittlichen
und religiösen Genusses theilhaftig." Doch wenn auch die Architektur strenger
wie jede andere Kunst die festen Züge der gesetzlichen Normen, an die sie ge¬
bunden ist, in ihrer Gestalt ausprägt, so ist ihr deshalb die freiere Schönheit
organischer Gebilde nicht versagt. Sie überwindet die todte Schwere des Stoffs
und die Starrheit der statischen Grundsätze, indem sie durch die feine Zusammen-
stimmung der Verhältnisse, die maßvolle Spannung und Lösung der Conflicte
von Last und Stütze und die rythmische Gliederung der Massen, zu welcher sie
die bloße Theilung ausbildet, den Bau wie aus eigener Kraft sich erheben läßt
und so das Gesetz wohl ausspricht, nicht aber als eine Nöthigung, sondern mit
dem freien Schein innerer Belebung. Zugleich versinnlicht sie im Spiel der
Ornamente die Dienstleistung der structiven Glieder mit phantasievollem und
doch architektonisch gemessenem Anklang an organische Formen: wie wenn die
Kraft des tektonischen Körpers nicht blos die Trägheit des Steins überwunden
hätte, sondern überquellend nun ihr Amt mit den Formen der belebten Natur
noch einmal verrichten wollte, Andrerseits zieht sie den Schmuck der Plastik
und Malerei in ihre umschließenden Wände, um nicht blos mit dem Bilde des
menschlichen Lebens auch ihren Mauern den Schein des Bedürfnisses zu nehmen,


ganz erfüllt, in seinem Bewußtsein für die Kunst keinen Raum hatte, diese
aus anderen Bildungsschichten, Zeiten und Völkern in sich aufnehmen, um die
Denkart wie das Schicksal der Menschheit umbilden zu können. Die Kunst ist
ebenso eine allgemeine Lebensform, wie sie ein der Seele eingeborenes Be¬
dürfniß ist, und so unterliegt sie den allgemeinen Gesetzen jedes lebendigen
Werdens wie denen des menschlichen Geistes und der geschichtlichen Ent¬
wickelung.

Vorab hat die Architektur, gebunden einerseits an die Bedingungen sowohl
des Stoffs als der Zweckbestimmung, andrerseits an die eigenthümliche Phan¬
tasie und Stimmung des gleichzeitigen Geschlechts, auch als Kunst diese innere
Nothwendigkeit in ihren Formen auszuprägen. Gerade sie ist insofern die Basis
aller Kunst, der feste monumentale Rahmen, welcher das ganze ideale Dasein
in sich schließt, als sie auf dem unverwüstlichen Grunde innerer Gesetzmäßigkeit
ruht und nur von diesem aus zur freien Bewegung, zum ungezwungenen Schein
des Lebens sich aufschwingt. Sie giebt den bildenden Künsten das Vorbild für
die Ruhe und den Einklang einer wohlgemessenen Anordnung; von ihr auch
geht in die Phantasie des von ihren Kunstwerken umgebenen Volkes unmerklich
Klarheit, Halt und Zusammenhang über. „Die Bürger einer wohlgebauten
Stadt," sagt einmal Goethe — an dessen Ausspruch sich zu erinnern freilich
jetzt schon Manche für altfränkisch halten — „wandeln und weben zwischen
ewigen Melodien, der Geist kann nicht sinken, die Thätigkeit nicht einschlafen,
und am gemeinsten Tage fühlen sie sich in einem ideellen Zustand; ohne Re¬
flexion, ohne nach dem Ursprung zu fragen, werden sie des höchsten sittlichen
und religiösen Genusses theilhaftig." Doch wenn auch die Architektur strenger
wie jede andere Kunst die festen Züge der gesetzlichen Normen, an die sie ge¬
bunden ist, in ihrer Gestalt ausprägt, so ist ihr deshalb die freiere Schönheit
organischer Gebilde nicht versagt. Sie überwindet die todte Schwere des Stoffs
und die Starrheit der statischen Grundsätze, indem sie durch die feine Zusammen-
stimmung der Verhältnisse, die maßvolle Spannung und Lösung der Conflicte
von Last und Stütze und die rythmische Gliederung der Massen, zu welcher sie
die bloße Theilung ausbildet, den Bau wie aus eigener Kraft sich erheben läßt
und so das Gesetz wohl ausspricht, nicht aber als eine Nöthigung, sondern mit
dem freien Schein innerer Belebung. Zugleich versinnlicht sie im Spiel der
Ornamente die Dienstleistung der structiven Glieder mit phantasievollem und
doch architektonisch gemessenem Anklang an organische Formen: wie wenn die
Kraft des tektonischen Körpers nicht blos die Trägheit des Steins überwunden
hätte, sondern überquellend nun ihr Amt mit den Formen der belebten Natur
noch einmal verrichten wollte, Andrerseits zieht sie den Schmuck der Plastik
und Malerei in ihre umschließenden Wände, um nicht blos mit dem Bilde des
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/362>, abgerufen am 23.07.2024.