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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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erst da, wo der Inhalt, über die Form hinausgreifend, eine Begebenheit andeu¬
tet, welche sich die Phantasie erzählend ausmalen kann.

In dieser Auffassung des Kunstwerks wird das Publikum von den Kunst¬
recensenten der Münchner Zeitungen nur bestärkt. Bekanntlich hat in unseren
Tagen die Kritik der Zeitschriften und Tageblätter auf die künstlerische Stim¬
mung und Anschauung einen Einfluß gewonnen, der den schöpferischen Epochen,
die sich mit mündlichem Austausch begnügten, ganz fremd war. Die moderne
Unsicherheit der ästhetischen Empfindung weiß sich in der Menge der aus der
Vergangenheit hervorgeholter Stosse und Formen nicht zurechtzufinden, nichts
entschieden abzulehnen, nichts entschieden festzuhalten; sie klammert sich daher
an die kritische Forschung und läßt sich von dieser den Weg weisen. Die Stütze
der Kritik ist dem Laien zum Bedürfniß geworden. Ob freilich durch sie seine
Anschauung an Halt und Klarheit gewinnt, daran muß, offen gestanden, der
Kritiker selber zweifeln; denn womöglich noch vielköpfiger als das Publikum
ist das Kunstrichterthum. Wenn den Beschauer nicht seine eigene gute Natur
auf das Rechte bringt, bei den wirr durchcinanderlärmenden Stimmen der
Kritik wird er sich schwerlich Raths erholen. Was kann auch der Kunstforscher,
dem es Ernst ist, dem modernen Werke gegenüber Anderes, als einerseits die
Wirkung schildern, die es auf seinen an der mustergiltigen Kunst geübten Sinn
macht, andrerseits die Stellung kennzeichnen, welche es in dem geschichtlichen
Zusammenhange des neuen Kunstlebens einnimmt? Was er von der Auffassung,
Behandlung und Ausführung auf Grund seiner Kennerschaft und seines ästhe¬
tischen? Wissens vorbringt, dafür muß er den Beweis schuldig bleiben; denn er
kann das Object der Anschauung nicht ebenfalls in Worte fassen, um an ihm
seine Meinung zu demonstriren. Was aber verbürgt dem Leser, der an der
Kritik sein Urtheil bilden möchte, ob dem Geschmacksrichter die erste Bedingung
aller Kunstbetrachtung eigen sei: nämlich die natürliche und durch Studium ge¬
bildete Gabe des Verständnisses? und ob er den Ariadneknäuel gefunden habe,
der ihm durch das Labyrinth der vielverzweigten modernen Kunst durchhelfen soll?
Auf Treu und Glauben muß er sich dem Führer überlassen: wo es dann wohl
vorkommen kann, daß er schließlich noch mehr in die Irre gebracht auch den
Faden verliert, den ihm sein eigener Sinn noch an die Hand geben könnte.

Denn in derselben schwankenden Ungewißheit wie die allgemeine An¬
schauung befindet sich das Kunsturtheil. Ja mehr noch als jener fehlt diesem
seiner Natur nach die Unbefangenheit des Blickes, die naiv sich hingebende
Freude an der Erscheinung. Wie erstere über der Frage nach dem Inhalt nur
selten der Form ihr Recht werden läßt: so hat bisher die deutsche Kritik fast
durchweg die Schleppe der Philosophie getragen und überall zunächst nach dem
bedanken, der Idee gesucht, die Form dagegen als ihr bloßes Kleid nebenher
"ut ein paar sei es dürren, sei es blühenden Redensarten abgefertigt. Natürlich,


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erst da, wo der Inhalt, über die Form hinausgreifend, eine Begebenheit andeu¬
tet, welche sich die Phantasie erzählend ausmalen kann.

In dieser Auffassung des Kunstwerks wird das Publikum von den Kunst¬
recensenten der Münchner Zeitungen nur bestärkt. Bekanntlich hat in unseren
Tagen die Kritik der Zeitschriften und Tageblätter auf die künstlerische Stim¬
mung und Anschauung einen Einfluß gewonnen, der den schöpferischen Epochen,
die sich mit mündlichem Austausch begnügten, ganz fremd war. Die moderne
Unsicherheit der ästhetischen Empfindung weiß sich in der Menge der aus der
Vergangenheit hervorgeholter Stosse und Formen nicht zurechtzufinden, nichts
entschieden abzulehnen, nichts entschieden festzuhalten; sie klammert sich daher
an die kritische Forschung und läßt sich von dieser den Weg weisen. Die Stütze
der Kritik ist dem Laien zum Bedürfniß geworden. Ob freilich durch sie seine
Anschauung an Halt und Klarheit gewinnt, daran muß, offen gestanden, der
Kritiker selber zweifeln; denn womöglich noch vielköpfiger als das Publikum
ist das Kunstrichterthum. Wenn den Beschauer nicht seine eigene gute Natur
auf das Rechte bringt, bei den wirr durchcinanderlärmenden Stimmen der
Kritik wird er sich schwerlich Raths erholen. Was kann auch der Kunstforscher,
dem es Ernst ist, dem modernen Werke gegenüber Anderes, als einerseits die
Wirkung schildern, die es auf seinen an der mustergiltigen Kunst geübten Sinn
macht, andrerseits die Stellung kennzeichnen, welche es in dem geschichtlichen
Zusammenhange des neuen Kunstlebens einnimmt? Was er von der Auffassung,
Behandlung und Ausführung auf Grund seiner Kennerschaft und seines ästhe¬
tischen? Wissens vorbringt, dafür muß er den Beweis schuldig bleiben; denn er
kann das Object der Anschauung nicht ebenfalls in Worte fassen, um an ihm
seine Meinung zu demonstriren. Was aber verbürgt dem Leser, der an der
Kritik sein Urtheil bilden möchte, ob dem Geschmacksrichter die erste Bedingung
aller Kunstbetrachtung eigen sei: nämlich die natürliche und durch Studium ge¬
bildete Gabe des Verständnisses? und ob er den Ariadneknäuel gefunden habe,
der ihm durch das Labyrinth der vielverzweigten modernen Kunst durchhelfen soll?
Auf Treu und Glauben muß er sich dem Führer überlassen: wo es dann wohl
vorkommen kann, daß er schließlich noch mehr in die Irre gebracht auch den
Faden verliert, den ihm sein eigener Sinn noch an die Hand geben könnte.

Denn in derselben schwankenden Ungewißheit wie die allgemeine An¬
schauung befindet sich das Kunsturtheil. Ja mehr noch als jener fehlt diesem
seiner Natur nach die Unbefangenheit des Blickes, die naiv sich hingebende
Freude an der Erscheinung. Wie erstere über der Frage nach dem Inhalt nur
selten der Form ihr Recht werden läßt: so hat bisher die deutsche Kritik fast
durchweg die Schleppe der Philosophie getragen und überall zunächst nach dem
bedanken, der Idee gesucht, die Form dagegen als ihr bloßes Kleid nebenher
"ut ein paar sei es dürren, sei es blühenden Redensarten abgefertigt. Natürlich,


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[0319] erst da, wo der Inhalt, über die Form hinausgreifend, eine Begebenheit andeu¬ tet, welche sich die Phantasie erzählend ausmalen kann. In dieser Auffassung des Kunstwerks wird das Publikum von den Kunst¬ recensenten der Münchner Zeitungen nur bestärkt. Bekanntlich hat in unseren Tagen die Kritik der Zeitschriften und Tageblätter auf die künstlerische Stim¬ mung und Anschauung einen Einfluß gewonnen, der den schöpferischen Epochen, die sich mit mündlichem Austausch begnügten, ganz fremd war. Die moderne Unsicherheit der ästhetischen Empfindung weiß sich in der Menge der aus der Vergangenheit hervorgeholter Stosse und Formen nicht zurechtzufinden, nichts entschieden abzulehnen, nichts entschieden festzuhalten; sie klammert sich daher an die kritische Forschung und läßt sich von dieser den Weg weisen. Die Stütze der Kritik ist dem Laien zum Bedürfniß geworden. Ob freilich durch sie seine Anschauung an Halt und Klarheit gewinnt, daran muß, offen gestanden, der Kritiker selber zweifeln; denn womöglich noch vielköpfiger als das Publikum ist das Kunstrichterthum. Wenn den Beschauer nicht seine eigene gute Natur auf das Rechte bringt, bei den wirr durchcinanderlärmenden Stimmen der Kritik wird er sich schwerlich Raths erholen. Was kann auch der Kunstforscher, dem es Ernst ist, dem modernen Werke gegenüber Anderes, als einerseits die Wirkung schildern, die es auf seinen an der mustergiltigen Kunst geübten Sinn macht, andrerseits die Stellung kennzeichnen, welche es in dem geschichtlichen Zusammenhange des neuen Kunstlebens einnimmt? Was er von der Auffassung, Behandlung und Ausführung auf Grund seiner Kennerschaft und seines ästhe¬ tischen? Wissens vorbringt, dafür muß er den Beweis schuldig bleiben; denn er kann das Object der Anschauung nicht ebenfalls in Worte fassen, um an ihm seine Meinung zu demonstriren. Was aber verbürgt dem Leser, der an der Kritik sein Urtheil bilden möchte, ob dem Geschmacksrichter die erste Bedingung aller Kunstbetrachtung eigen sei: nämlich die natürliche und durch Studium ge¬ bildete Gabe des Verständnisses? und ob er den Ariadneknäuel gefunden habe, der ihm durch das Labyrinth der vielverzweigten modernen Kunst durchhelfen soll? Auf Treu und Glauben muß er sich dem Führer überlassen: wo es dann wohl vorkommen kann, daß er schließlich noch mehr in die Irre gebracht auch den Faden verliert, den ihm sein eigener Sinn noch an die Hand geben könnte. Denn in derselben schwankenden Ungewißheit wie die allgemeine An¬ schauung befindet sich das Kunsturtheil. Ja mehr noch als jener fehlt diesem seiner Natur nach die Unbefangenheit des Blickes, die naiv sich hingebende Freude an der Erscheinung. Wie erstere über der Frage nach dem Inhalt nur selten der Form ihr Recht werden läßt: so hat bisher die deutsche Kritik fast durchweg die Schleppe der Philosophie getragen und überall zunächst nach dem bedanken, der Idee gesucht, die Form dagegen als ihr bloßes Kleid nebenher "ut ein paar sei es dürren, sei es blühenden Redensarten abgefertigt. Natürlich, 38"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/319>, abgerufen am 23.07.2024.