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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Kunst selber nicht geringe Schuld, da sie der allgemeinen Anschauung sich unter¬
ordnete, statt sie zu sich zu erheben. Aber suchen wir, worin diese ihren ersten
Grund hatte, se> war es vorab der ganze Zuschnitt des öffentlichen und socialen
Lebens, der eine echte künstlerische Stimmung nicht aufkommen ließ. Die ge¬
setzliche und polizeiliche Zurichtung des ganzen Daseins, welche alle Formen,
Dinge und Menschen in ihre gleichmäßige Ordnung zwingt, in der die Person
nur eine Nummer neuen Nummern und mit ihren Kräften und Leiden¬
schaften hinter die Mauern des Privathauses gebannt ist; auf der anderen
Seite das Individuum in seinen vier Wänden ganz sich selber überlassen, seinen
Launen und Eigenheiten da erst recht nachgebend, nicht abgeschliffen, nicht ge¬
stählt durch die Schule der Oeffentlichkeit, mit seiner Willenskraft auf die
heimliche Ausbildung seines Inneren angewiesen, das es nur durch das Wort,
nicht durch die That mitzutheilen vermag; endlich in sich selber das Bild des
Staates wiederholend, indem es seine Natur in die Fesseln der allgemeinen
Sitte und Meinung legt und so seiner Erscheinung das farblose Gepräge einer
zum Gesetz erhobenen Schicklichkeit aufdrückt, dagegen alle Neigungen und Ge¬
lüste nur um so brennender unter der kühlen Decke spielen läßt: so ist überall
die Form zur starren ausdruckslosen Regel geworden, während das reich ent¬
wickelte Gemüth nur blitz- und sprungweise in einzelnen abgerissenen Aeußerungen
oder in abstracter körperlicher Erscheinung zu Tage schlägt. Wie soll da das
Auge fähig werden, in der Wirklichkeit ein organisches Ganze erfüllter Gestalten,
in der äußeren Hülle die Bewegung des Lebens zu sehen? Auch hier also,
in der Einrichtung der modernen Welt, ein schwerer Gehalt, der sich gegen die
Form gleichgiltig verhält, und daher eine Anschauung, welche entweder in dieser
nach jenem sucht oder nichts von ihr verlangt, als eine leere gefällige Ver¬
körperung des Alltäglichen.

Die alte Klage über die Prosa der Zeit. Diese ist ja nichts Anderes, als
jene Trennung des Inneren vom Aeußeren, jene Verfestigung des inneren Ge¬
setzes zur abgezogenen einschnürenden Rege! und die vom Ganzen losgerissene
auf sich beschränkte Ausbildung der individuellen Eigenheit. Der'Cultus des
Geistes, in dem die Gegenwart eine ihr eigenthümliche Größe hat, feiert in
den Gegensätzen des menschlichen Lebens seine Triumphe. Er unterwirft
sich auf der einen Seite die Natur in einem bisher ungeahnten Umfang und
ringt durch die erfinderische Ausbeutung ihrer Kräfte nach einem neuen glück¬
lichen Weltzustand; auf der andern schafft er alle bisher verdeckten geistigen
Schätze ans Licht und baut sich in Wissenschaft und Literatur eine große innere
Welt auf. Die Wirklichkeit strebt er mit dem Ideal, das er nun nicht mehr
in irgendeinem Himmel, sondern in sich selber findet, in tieferer Weise als je
zu versöhnen. Aber noch ist die Kluft nicht ausgefüllt, der Eingang früherer
Epochen zerstört, die überkommenen Lebensformen zerbrochen und "verdrießlich


Kunst selber nicht geringe Schuld, da sie der allgemeinen Anschauung sich unter¬
ordnete, statt sie zu sich zu erheben. Aber suchen wir, worin diese ihren ersten
Grund hatte, se> war es vorab der ganze Zuschnitt des öffentlichen und socialen
Lebens, der eine echte künstlerische Stimmung nicht aufkommen ließ. Die ge¬
setzliche und polizeiliche Zurichtung des ganzen Daseins, welche alle Formen,
Dinge und Menschen in ihre gleichmäßige Ordnung zwingt, in der die Person
nur eine Nummer neuen Nummern und mit ihren Kräften und Leiden¬
schaften hinter die Mauern des Privathauses gebannt ist; auf der anderen
Seite das Individuum in seinen vier Wänden ganz sich selber überlassen, seinen
Launen und Eigenheiten da erst recht nachgebend, nicht abgeschliffen, nicht ge¬
stählt durch die Schule der Oeffentlichkeit, mit seiner Willenskraft auf die
heimliche Ausbildung seines Inneren angewiesen, das es nur durch das Wort,
nicht durch die That mitzutheilen vermag; endlich in sich selber das Bild des
Staates wiederholend, indem es seine Natur in die Fesseln der allgemeinen
Sitte und Meinung legt und so seiner Erscheinung das farblose Gepräge einer
zum Gesetz erhobenen Schicklichkeit aufdrückt, dagegen alle Neigungen und Ge¬
lüste nur um so brennender unter der kühlen Decke spielen läßt: so ist überall
die Form zur starren ausdruckslosen Regel geworden, während das reich ent¬
wickelte Gemüth nur blitz- und sprungweise in einzelnen abgerissenen Aeußerungen
oder in abstracter körperlicher Erscheinung zu Tage schlägt. Wie soll da das
Auge fähig werden, in der Wirklichkeit ein organisches Ganze erfüllter Gestalten,
in der äußeren Hülle die Bewegung des Lebens zu sehen? Auch hier also,
in der Einrichtung der modernen Welt, ein schwerer Gehalt, der sich gegen die
Form gleichgiltig verhält, und daher eine Anschauung, welche entweder in dieser
nach jenem sucht oder nichts von ihr verlangt, als eine leere gefällige Ver¬
körperung des Alltäglichen.

Die alte Klage über die Prosa der Zeit. Diese ist ja nichts Anderes, als
jene Trennung des Inneren vom Aeußeren, jene Verfestigung des inneren Ge¬
setzes zur abgezogenen einschnürenden Rege! und die vom Ganzen losgerissene
auf sich beschränkte Ausbildung der individuellen Eigenheit. Der'Cultus des
Geistes, in dem die Gegenwart eine ihr eigenthümliche Größe hat, feiert in
den Gegensätzen des menschlichen Lebens seine Triumphe. Er unterwirft
sich auf der einen Seite die Natur in einem bisher ungeahnten Umfang und
ringt durch die erfinderische Ausbeutung ihrer Kräfte nach einem neuen glück¬
lichen Weltzustand; auf der andern schafft er alle bisher verdeckten geistigen
Schätze ans Licht und baut sich in Wissenschaft und Literatur eine große innere
Welt auf. Die Wirklichkeit strebt er mit dem Ideal, das er nun nicht mehr
in irgendeinem Himmel, sondern in sich selber findet, in tieferer Weise als je
zu versöhnen. Aber noch ist die Kluft nicht ausgefüllt, der Eingang früherer
Epochen zerstört, die überkommenen Lebensformen zerbrochen und „verdrießlich


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[0310] Kunst selber nicht geringe Schuld, da sie der allgemeinen Anschauung sich unter¬ ordnete, statt sie zu sich zu erheben. Aber suchen wir, worin diese ihren ersten Grund hatte, se> war es vorab der ganze Zuschnitt des öffentlichen und socialen Lebens, der eine echte künstlerische Stimmung nicht aufkommen ließ. Die ge¬ setzliche und polizeiliche Zurichtung des ganzen Daseins, welche alle Formen, Dinge und Menschen in ihre gleichmäßige Ordnung zwingt, in der die Person nur eine Nummer neuen Nummern und mit ihren Kräften und Leiden¬ schaften hinter die Mauern des Privathauses gebannt ist; auf der anderen Seite das Individuum in seinen vier Wänden ganz sich selber überlassen, seinen Launen und Eigenheiten da erst recht nachgebend, nicht abgeschliffen, nicht ge¬ stählt durch die Schule der Oeffentlichkeit, mit seiner Willenskraft auf die heimliche Ausbildung seines Inneren angewiesen, das es nur durch das Wort, nicht durch die That mitzutheilen vermag; endlich in sich selber das Bild des Staates wiederholend, indem es seine Natur in die Fesseln der allgemeinen Sitte und Meinung legt und so seiner Erscheinung das farblose Gepräge einer zum Gesetz erhobenen Schicklichkeit aufdrückt, dagegen alle Neigungen und Ge¬ lüste nur um so brennender unter der kühlen Decke spielen läßt: so ist überall die Form zur starren ausdruckslosen Regel geworden, während das reich ent¬ wickelte Gemüth nur blitz- und sprungweise in einzelnen abgerissenen Aeußerungen oder in abstracter körperlicher Erscheinung zu Tage schlägt. Wie soll da das Auge fähig werden, in der Wirklichkeit ein organisches Ganze erfüllter Gestalten, in der äußeren Hülle die Bewegung des Lebens zu sehen? Auch hier also, in der Einrichtung der modernen Welt, ein schwerer Gehalt, der sich gegen die Form gleichgiltig verhält, und daher eine Anschauung, welche entweder in dieser nach jenem sucht oder nichts von ihr verlangt, als eine leere gefällige Ver¬ körperung des Alltäglichen. Die alte Klage über die Prosa der Zeit. Diese ist ja nichts Anderes, als jene Trennung des Inneren vom Aeußeren, jene Verfestigung des inneren Ge¬ setzes zur abgezogenen einschnürenden Rege! und die vom Ganzen losgerissene auf sich beschränkte Ausbildung der individuellen Eigenheit. Der'Cultus des Geistes, in dem die Gegenwart eine ihr eigenthümliche Größe hat, feiert in den Gegensätzen des menschlichen Lebens seine Triumphe. Er unterwirft sich auf der einen Seite die Natur in einem bisher ungeahnten Umfang und ringt durch die erfinderische Ausbeutung ihrer Kräfte nach einem neuen glück¬ lichen Weltzustand; auf der andern schafft er alle bisher verdeckten geistigen Schätze ans Licht und baut sich in Wissenschaft und Literatur eine große innere Welt auf. Die Wirklichkeit strebt er mit dem Ideal, das er nun nicht mehr in irgendeinem Himmel, sondern in sich selber findet, in tieferer Weise als je zu versöhnen. Aber noch ist die Kluft nicht ausgefüllt, der Eingang früherer Epochen zerstört, die überkommenen Lebensformen zerbrochen und „verdrießlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/310>, abgerufen am 23.07.2024.