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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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der Sonnennähe entgegen. Oder warum sollte man sich nicht der Hoffnung
hingeben, auch der bürgerlichen Verfassung stehe eine feste und allgemeine Be¬
gründung bevor, wie sie der kirchlichen schon vor Jahrhunderten zu Theil ward?
Etwa darum nicht, weil es der Spekulation noch nicht gelungen, den Riß des
neuen Gebäudes zu entwerfen? Aber wer erkannte in früherer Zeit auch nur
die äußeren Umrisse jener Gemeinschaft, die mit dem Namen des höchsten
Sterblichen bezeichnet ist? wessen Geist durchdrang je die Ahnung des gott¬
geweihten Bundes, der das Siegespanier seines Glaubens in allen Welttheilen
aufgerichtet hat? Wie dort, so bedarf es auch hier vielleicht nur des zünden¬
den Funkens, der die lebensschwangeren Stoffe beseele, vielleicht ist es unserem
Zeitalter aufbehalten, Zeuge der neuen Schöpfung zu sein, deren Bild schon
längst in den Träumen der Menschheit gespielt hat. Die zarte Blüthe der
Freiheit hat sich ja schon mehr als einmal dem Tageslichte geöffnet, unter den
hellenischen Eidgenossenschaften, unter den Völkern des glücklichen Italiens; doch
überall überwucherte sie sich und erstarb.

Der Sturm, der die colossalen Reiche des neueren Europa zusammengewebt,
drängte sie in ihre Knospe zurück, doch ihre Wurzel war tief und innig in das
Leben der germanischen Völker verwachsen. Die Franken auf ihren Maifeldern,
die Sachsen aus ihren Wittcnagemots kränzten sich mit ihrem Blätterschmuck
und durch sie ward die Wunderblume auf den Boden Galliens und Britanniens
hinübergepflanzt, wo sie manche herrliche Frucht des Lebens getragen hat. Aber
die Völker berauschten sich in ihrem Duft zum Wahnsinn und zertrümmerten
freveltrunken die zarte Stütze, an der sie sich emporrankte. Denn überall hat
es noch dem Freiheitsbäume ander sorgsamen Pflege gefehlt, die seinen Riesen¬
wuchs mäßigte und beschränkte.

Darf uns aber eine erfahrungsreiche Vergangenheit zeugen, so wird er an
dem treuen, frommen deutschen Volke einen Pfleger finden, unter dessen Hand
er sich schöner als je am milden Sonnenstrahl der Königshuld entfalten kann.

Wenn aber nach dem Gewinn gefragt wird, den uns die neue Gestaltung
des öffentlichen Lebens bringen werde, so wollen wir zwar nicht auf ein tau¬
sendjähriges Reich, auf eine neue Erde hoffen, aber wir mögen auch nicht
die dürftigen Hoffnungen jener theilen, welche nur äußere Vortheile, Verminde¬
rung der öffentlichen Lasten, mit einem Worte nichts als die Rückkehr einer
Zeit erwarten, wo auf Land- und Reichstagen sich die Abgeordneten einzelner
Stände, Ritter und Prälaten über Anleihen und Steuern beriethen. Es kann
nicht mehr von der Wiederbringung alter Rechte und Ehren, es muß von neuem,
eigenem Erwerbe die Rede sein.

Und dabei müssen wir auf das untergegangene Leben jenes Volkes zurück¬
schauen, in dessen Mitte die Volksvertretung am frühesten in kühnerem oder
schwächeren Formen, wenn auch nur für einen kurzen Frühling sich entwickelte.


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der Sonnennähe entgegen. Oder warum sollte man sich nicht der Hoffnung
hingeben, auch der bürgerlichen Verfassung stehe eine feste und allgemeine Be¬
gründung bevor, wie sie der kirchlichen schon vor Jahrhunderten zu Theil ward?
Etwa darum nicht, weil es der Spekulation noch nicht gelungen, den Riß des
neuen Gebäudes zu entwerfen? Aber wer erkannte in früherer Zeit auch nur
die äußeren Umrisse jener Gemeinschaft, die mit dem Namen des höchsten
Sterblichen bezeichnet ist? wessen Geist durchdrang je die Ahnung des gott¬
geweihten Bundes, der das Siegespanier seines Glaubens in allen Welttheilen
aufgerichtet hat? Wie dort, so bedarf es auch hier vielleicht nur des zünden¬
den Funkens, der die lebensschwangeren Stoffe beseele, vielleicht ist es unserem
Zeitalter aufbehalten, Zeuge der neuen Schöpfung zu sein, deren Bild schon
längst in den Träumen der Menschheit gespielt hat. Die zarte Blüthe der
Freiheit hat sich ja schon mehr als einmal dem Tageslichte geöffnet, unter den
hellenischen Eidgenossenschaften, unter den Völkern des glücklichen Italiens; doch
überall überwucherte sie sich und erstarb.

Der Sturm, der die colossalen Reiche des neueren Europa zusammengewebt,
drängte sie in ihre Knospe zurück, doch ihre Wurzel war tief und innig in das
Leben der germanischen Völker verwachsen. Die Franken auf ihren Maifeldern,
die Sachsen aus ihren Wittcnagemots kränzten sich mit ihrem Blätterschmuck
und durch sie ward die Wunderblume auf den Boden Galliens und Britanniens
hinübergepflanzt, wo sie manche herrliche Frucht des Lebens getragen hat. Aber
die Völker berauschten sich in ihrem Duft zum Wahnsinn und zertrümmerten
freveltrunken die zarte Stütze, an der sie sich emporrankte. Denn überall hat
es noch dem Freiheitsbäume ander sorgsamen Pflege gefehlt, die seinen Riesen¬
wuchs mäßigte und beschränkte.

Darf uns aber eine erfahrungsreiche Vergangenheit zeugen, so wird er an
dem treuen, frommen deutschen Volke einen Pfleger finden, unter dessen Hand
er sich schöner als je am milden Sonnenstrahl der Königshuld entfalten kann.

Wenn aber nach dem Gewinn gefragt wird, den uns die neue Gestaltung
des öffentlichen Lebens bringen werde, so wollen wir zwar nicht auf ein tau¬
sendjähriges Reich, auf eine neue Erde hoffen, aber wir mögen auch nicht
die dürftigen Hoffnungen jener theilen, welche nur äußere Vortheile, Verminde¬
rung der öffentlichen Lasten, mit einem Worte nichts als die Rückkehr einer
Zeit erwarten, wo auf Land- und Reichstagen sich die Abgeordneten einzelner
Stände, Ritter und Prälaten über Anleihen und Steuern beriethen. Es kann
nicht mehr von der Wiederbringung alter Rechte und Ehren, es muß von neuem,
eigenem Erwerbe die Rede sein.

Und dabei müssen wir auf das untergegangene Leben jenes Volkes zurück¬
schauen, in dessen Mitte die Volksvertretung am frühesten in kühnerem oder
schwächeren Formen, wenn auch nur für einen kurzen Frühling sich entwickelte.


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[0303] der Sonnennähe entgegen. Oder warum sollte man sich nicht der Hoffnung hingeben, auch der bürgerlichen Verfassung stehe eine feste und allgemeine Be¬ gründung bevor, wie sie der kirchlichen schon vor Jahrhunderten zu Theil ward? Etwa darum nicht, weil es der Spekulation noch nicht gelungen, den Riß des neuen Gebäudes zu entwerfen? Aber wer erkannte in früherer Zeit auch nur die äußeren Umrisse jener Gemeinschaft, die mit dem Namen des höchsten Sterblichen bezeichnet ist? wessen Geist durchdrang je die Ahnung des gott¬ geweihten Bundes, der das Siegespanier seines Glaubens in allen Welttheilen aufgerichtet hat? Wie dort, so bedarf es auch hier vielleicht nur des zünden¬ den Funkens, der die lebensschwangeren Stoffe beseele, vielleicht ist es unserem Zeitalter aufbehalten, Zeuge der neuen Schöpfung zu sein, deren Bild schon längst in den Träumen der Menschheit gespielt hat. Die zarte Blüthe der Freiheit hat sich ja schon mehr als einmal dem Tageslichte geöffnet, unter den hellenischen Eidgenossenschaften, unter den Völkern des glücklichen Italiens; doch überall überwucherte sie sich und erstarb. Der Sturm, der die colossalen Reiche des neueren Europa zusammengewebt, drängte sie in ihre Knospe zurück, doch ihre Wurzel war tief und innig in das Leben der germanischen Völker verwachsen. Die Franken auf ihren Maifeldern, die Sachsen aus ihren Wittcnagemots kränzten sich mit ihrem Blätterschmuck und durch sie ward die Wunderblume auf den Boden Galliens und Britanniens hinübergepflanzt, wo sie manche herrliche Frucht des Lebens getragen hat. Aber die Völker berauschten sich in ihrem Duft zum Wahnsinn und zertrümmerten freveltrunken die zarte Stütze, an der sie sich emporrankte. Denn überall hat es noch dem Freiheitsbäume ander sorgsamen Pflege gefehlt, die seinen Riesen¬ wuchs mäßigte und beschränkte. Darf uns aber eine erfahrungsreiche Vergangenheit zeugen, so wird er an dem treuen, frommen deutschen Volke einen Pfleger finden, unter dessen Hand er sich schöner als je am milden Sonnenstrahl der Königshuld entfalten kann. Wenn aber nach dem Gewinn gefragt wird, den uns die neue Gestaltung des öffentlichen Lebens bringen werde, so wollen wir zwar nicht auf ein tau¬ sendjähriges Reich, auf eine neue Erde hoffen, aber wir mögen auch nicht die dürftigen Hoffnungen jener theilen, welche nur äußere Vortheile, Verminde¬ rung der öffentlichen Lasten, mit einem Worte nichts als die Rückkehr einer Zeit erwarten, wo auf Land- und Reichstagen sich die Abgeordneten einzelner Stände, Ritter und Prälaten über Anleihen und Steuern beriethen. Es kann nicht mehr von der Wiederbringung alter Rechte und Ehren, es muß von neuem, eigenem Erwerbe die Rede sein. Und dabei müssen wir auf das untergegangene Leben jenes Volkes zurück¬ schauen, in dessen Mitte die Volksvertretung am frühesten in kühnerem oder schwächeren Formen, wenn auch nur für einen kurzen Frühling sich entwickelte. 36*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/303>, abgerufen am 23.07.2024.