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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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von der preußischen Armee zurückgekehrten Kurprinzen, anstatt wie man er¬
wartet, nach Berlin zum Kaiser Napoleon zu reisen, flüchteten sich kurz vor dem
Einrücken des mortierschen Corps am 1, November nach Arolsen und gingen
von da weiter zum Landgrafen Karl nach Schleswig.

Beim ganzen Benehmen des Kurfürsten im September und October, in¬
dem er seine Truppen zum Theil mobil machte, gegen die darmsiädtsche Grenze
zusammenzog, sogar nach der bedingungsweise erhaltenen Neutralitätszusicherung
in diesen Maßregeln beharrte, war mit Gewißheit vorauszusehen, daß Kaiser
Napoleon über kurz oder lang sich rächen würde; denn wollte der Kurfürst
die Rolle einer bewaffneten Neutralität mit einiger Wahrscheinlichkeit spielen,
so mußte er gleich zu Anfang October nicht allein die südliche Grenze Hessens
gegen Frankreich, sondern auch die nördliche, östliche und westliche gegen Preu¬
ßen besetzen lassen. Das unerwartete Einrücken des Marschalls Mortier
in Herschfeld am 29, October mußte den Kurfürsten trotz aller gegebenen fried-,
liehen Versicherungen schon überzeugen, daß dieser Augenblick der Züchtigung
bereits gekommen sei. Nun war noch Zeit, seine sämmtlichen in Nicdcrhesscn
zerstreuten Truppen (sicher an 12,000 Mann) auf einen beliebigen Platz an der
Schwalm oder Edder zusammenzuziehen. Gesetzt aber auch, man habe sich
in diesem Augenblicke noch mit Hoffnungen getäuscht, so konnten doch am
31. October Mittags, wo Mortier bei Dörnhagen Halt gemacht hatte und
die von der andern Seite anrückende holländische Armee nur noch 4 bis S
Stunden entfernt war, kein Zweifel mehr übrig bleiben, und es mußten Vor¬
kehrungen getroffen werden. Ich weiß sicher, daß, obgleich Mr. Se. Genest
die Note in diesem Augenblick noch nicht überreicht hatte, der Kurfürst doch be¬
stimmt von dem Herannahen der beiden Corps unterrichtet war.

Kassel zu vertheidigen war unmöglich, wenn man die Stadt nicht einer
gründlichen Plünderung und Verheerung aussetzen wollte; hätte man aber, an¬
statt unthätig zu bleiben, am 31. October Mittags sogleich die nöthigen Ver¬
fügungen getroffen, so konnten am 2. November etwa 10,000 Mann bei Ziegen¬
hain versammelt sein, und entweder mit den Waffen in der Hand accordiren
oder fechten. Man sagt, der Kurfürst habe diesen Gedanken gehabt, habe seinem
Bruder, dem Landgrafen Friedrich das Commando übertragen, für seine Person
aber nebst dem Kurprinzen direct nach Berlin zum Kaiser Napoleon reisen wollen,
es wäre ihm jedoch von alle dem abgerathen worden. Daß er dem Rathe
folgte, entschied sein Verhängniß.

Um die Möglichkeit dieser so schnellen Zusammenziehung der Truppen bei
Ziegenhain zu beweisen, welche von Manchem bezweifelt werden könnte, muß
im Detail angegeben werden, wie die verschiedenen Regimenter seit dem 26. Oc¬
tober verlegt waren, und welche ungefähre Stärke sie hatten nach Abzug der
auf entfernten Kommandos oder sonst abwesenden Mannschaften:


von der preußischen Armee zurückgekehrten Kurprinzen, anstatt wie man er¬
wartet, nach Berlin zum Kaiser Napoleon zu reisen, flüchteten sich kurz vor dem
Einrücken des mortierschen Corps am 1, November nach Arolsen und gingen
von da weiter zum Landgrafen Karl nach Schleswig.

Beim ganzen Benehmen des Kurfürsten im September und October, in¬
dem er seine Truppen zum Theil mobil machte, gegen die darmsiädtsche Grenze
zusammenzog, sogar nach der bedingungsweise erhaltenen Neutralitätszusicherung
in diesen Maßregeln beharrte, war mit Gewißheit vorauszusehen, daß Kaiser
Napoleon über kurz oder lang sich rächen würde; denn wollte der Kurfürst
die Rolle einer bewaffneten Neutralität mit einiger Wahrscheinlichkeit spielen,
so mußte er gleich zu Anfang October nicht allein die südliche Grenze Hessens
gegen Frankreich, sondern auch die nördliche, östliche und westliche gegen Preu¬
ßen besetzen lassen. Das unerwartete Einrücken des Marschalls Mortier
in Herschfeld am 29, October mußte den Kurfürsten trotz aller gegebenen fried-,
liehen Versicherungen schon überzeugen, daß dieser Augenblick der Züchtigung
bereits gekommen sei. Nun war noch Zeit, seine sämmtlichen in Nicdcrhesscn
zerstreuten Truppen (sicher an 12,000 Mann) auf einen beliebigen Platz an der
Schwalm oder Edder zusammenzuziehen. Gesetzt aber auch, man habe sich
in diesem Augenblicke noch mit Hoffnungen getäuscht, so konnten doch am
31. October Mittags, wo Mortier bei Dörnhagen Halt gemacht hatte und
die von der andern Seite anrückende holländische Armee nur noch 4 bis S
Stunden entfernt war, kein Zweifel mehr übrig bleiben, und es mußten Vor¬
kehrungen getroffen werden. Ich weiß sicher, daß, obgleich Mr. Se. Genest
die Note in diesem Augenblick noch nicht überreicht hatte, der Kurfürst doch be¬
stimmt von dem Herannahen der beiden Corps unterrichtet war.

Kassel zu vertheidigen war unmöglich, wenn man die Stadt nicht einer
gründlichen Plünderung und Verheerung aussetzen wollte; hätte man aber, an¬
statt unthätig zu bleiben, am 31. October Mittags sogleich die nöthigen Ver¬
fügungen getroffen, so konnten am 2. November etwa 10,000 Mann bei Ziegen¬
hain versammelt sein, und entweder mit den Waffen in der Hand accordiren
oder fechten. Man sagt, der Kurfürst habe diesen Gedanken gehabt, habe seinem
Bruder, dem Landgrafen Friedrich das Commando übertragen, für seine Person
aber nebst dem Kurprinzen direct nach Berlin zum Kaiser Napoleon reisen wollen,
es wäre ihm jedoch von alle dem abgerathen worden. Daß er dem Rathe
folgte, entschied sein Verhängniß.

Um die Möglichkeit dieser so schnellen Zusammenziehung der Truppen bei
Ziegenhain zu beweisen, welche von Manchem bezweifelt werden könnte, muß
im Detail angegeben werden, wie die verschiedenen Regimenter seit dem 26. Oc¬
tober verlegt waren, und welche ungefähre Stärke sie hatten nach Abzug der
auf entfernten Kommandos oder sonst abwesenden Mannschaften:


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[0155] von der preußischen Armee zurückgekehrten Kurprinzen, anstatt wie man er¬ wartet, nach Berlin zum Kaiser Napoleon zu reisen, flüchteten sich kurz vor dem Einrücken des mortierschen Corps am 1, November nach Arolsen und gingen von da weiter zum Landgrafen Karl nach Schleswig. Beim ganzen Benehmen des Kurfürsten im September und October, in¬ dem er seine Truppen zum Theil mobil machte, gegen die darmsiädtsche Grenze zusammenzog, sogar nach der bedingungsweise erhaltenen Neutralitätszusicherung in diesen Maßregeln beharrte, war mit Gewißheit vorauszusehen, daß Kaiser Napoleon über kurz oder lang sich rächen würde; denn wollte der Kurfürst die Rolle einer bewaffneten Neutralität mit einiger Wahrscheinlichkeit spielen, so mußte er gleich zu Anfang October nicht allein die südliche Grenze Hessens gegen Frankreich, sondern auch die nördliche, östliche und westliche gegen Preu¬ ßen besetzen lassen. Das unerwartete Einrücken des Marschalls Mortier in Herschfeld am 29, October mußte den Kurfürsten trotz aller gegebenen fried-, liehen Versicherungen schon überzeugen, daß dieser Augenblick der Züchtigung bereits gekommen sei. Nun war noch Zeit, seine sämmtlichen in Nicdcrhesscn zerstreuten Truppen (sicher an 12,000 Mann) auf einen beliebigen Platz an der Schwalm oder Edder zusammenzuziehen. Gesetzt aber auch, man habe sich in diesem Augenblicke noch mit Hoffnungen getäuscht, so konnten doch am 31. October Mittags, wo Mortier bei Dörnhagen Halt gemacht hatte und die von der andern Seite anrückende holländische Armee nur noch 4 bis S Stunden entfernt war, kein Zweifel mehr übrig bleiben, und es mußten Vor¬ kehrungen getroffen werden. Ich weiß sicher, daß, obgleich Mr. Se. Genest die Note in diesem Augenblick noch nicht überreicht hatte, der Kurfürst doch be¬ stimmt von dem Herannahen der beiden Corps unterrichtet war. Kassel zu vertheidigen war unmöglich, wenn man die Stadt nicht einer gründlichen Plünderung und Verheerung aussetzen wollte; hätte man aber, an¬ statt unthätig zu bleiben, am 31. October Mittags sogleich die nöthigen Ver¬ fügungen getroffen, so konnten am 2. November etwa 10,000 Mann bei Ziegen¬ hain versammelt sein, und entweder mit den Waffen in der Hand accordiren oder fechten. Man sagt, der Kurfürst habe diesen Gedanken gehabt, habe seinem Bruder, dem Landgrafen Friedrich das Commando übertragen, für seine Person aber nebst dem Kurprinzen direct nach Berlin zum Kaiser Napoleon reisen wollen, es wäre ihm jedoch von alle dem abgerathen worden. Daß er dem Rathe folgte, entschied sein Verhängniß. Um die Möglichkeit dieser so schnellen Zusammenziehung der Truppen bei Ziegenhain zu beweisen, welche von Manchem bezweifelt werden könnte, muß im Detail angegeben werden, wie die verschiedenen Regimenter seit dem 26. Oc¬ tober verlegt waren, und welche ungefähre Stärke sie hatten nach Abzug der auf entfernten Kommandos oder sonst abwesenden Mannschaften:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/155>, abgerufen am 23.07.2024.