Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Colani ist kühner und führt nun von diesem Punkte aus in einem glänzenden
exegetischen Versuche aus, daß Jesus erst im Moment des Aufbruchs nach
Galiläa sich den Mcssiasnamen beigelegt, daß er aber von ihm nur die Idee
eines geistigen Hauptes der Menschheit sich angeeignet habe, daß er wohl
Messias sein wollte, aber nicht ein triumphirender, sondern ein leidender und
sterbender, daß er das Gottesreich als ein universelles menschheitliches Ideal auf¬
gefaßt und an die Stelle der Katastrophen der Apokalypse" den Begriff einer
organischen Entwicklung gesetzt habe. Auch nach dem Vielen, was schon über
das Reich Gottes, den Namen Menschensohn u. s. w. geschrieben worden ist
wird man die Erörterungen Colanis mit Nutzen lesen. Das Ganze ist eine
originelle, scharfsinnig begründete Hypothese. Aber es ist doch nur Hypothese.

Zwei gewichtige Einwendungen liegen nahe. Wenn Jesus das Gottes¬
reich rein geistig faßte, wenn er mit dem Messiasnamen einen ganz andern
Begriff verband, als die jüdische Lorstellung war, wie kam es, daß er über¬
haupt diesen Titel annahm, daß er sich also, -- wie man fast sagen muß --
für einen anderen ausgab, als er war? Und dann: wie kommt es, daß wir
in der ersten Gemeinde, bei den eigenen Jüngern Jesu doch wieder einen weit
sinnlicheren und selbst particularistischeren Messiasbegriff finden, der sich erst
durch die inneren Entwickelungen des Christenthums der ersten zwei Jahr¬
hunderte läuterte, aber auch zugleich so ins Uebernatürliche steigerte, daß er
im Grund sich von dem Gedanken Jesu noch weiter entfernte? In diesen bei¬
den Fragen liegt offenbar die Hauptschwierigkeit des ganzen Problems, das
nur durch eine Erklärung des urchristlicher Bewußtseins ganz gelöst werden
könnte.

Letzteres nun lag der Untersuchung Colanis ferner. Aber dem ersteren
Einwand, wie Jesus trotz seines geistig hohen und freien Standpunkts seinem
Berufe jene Aufschrift habe geben können, sucht er einmal durch die Erinnerung
an die allegorische Schnftauslcgung zu begegnen, deren sich damals jedermann
bediente. Jesus konnte es also aus Stellen des alten Testaments herauslesen,
daß der künftige König Israels anstatt ein zweiter David zu werden, das Loos
der Propheten und des "Knechts Gottes" im Jesaia theilen werde. War der-
Messias nicht ein siegreicher König, sondern vielmehr ein Opfer, so konnte er
unbedenklich sich für den Messias halten. Allein dieselbe Umwandlung des
Messiastypus war auch möglich ohne diese künstliche Herleitung aus der Schrift.
Jesus fühlt mehr und mehr seine Bestimmung, ein Mann des Opfers zu sein,
das Leben für seine Sache zu lassen; denn er kann nicht in Galiläa bleiben
ohne zurückzuweichen, und er kann nicht den Mächten in Jerusalem entgegen¬
gehen ohne sich dem sichern Tod auszusetzen. Dieses Entschlufies einmal ge¬
wiß, erkennt er es als Gottes unwürdig, wenn der Messias ein solcher wäre,
wie ihn die Juden erwarten und die Propheten verkündigten, daß der Messias


Colani ist kühner und führt nun von diesem Punkte aus in einem glänzenden
exegetischen Versuche aus, daß Jesus erst im Moment des Aufbruchs nach
Galiläa sich den Mcssiasnamen beigelegt, daß er aber von ihm nur die Idee
eines geistigen Hauptes der Menschheit sich angeeignet habe, daß er wohl
Messias sein wollte, aber nicht ein triumphirender, sondern ein leidender und
sterbender, daß er das Gottesreich als ein universelles menschheitliches Ideal auf¬
gefaßt und an die Stelle der Katastrophen der Apokalypse» den Begriff einer
organischen Entwicklung gesetzt habe. Auch nach dem Vielen, was schon über
das Reich Gottes, den Namen Menschensohn u. s. w. geschrieben worden ist
wird man die Erörterungen Colanis mit Nutzen lesen. Das Ganze ist eine
originelle, scharfsinnig begründete Hypothese. Aber es ist doch nur Hypothese.

Zwei gewichtige Einwendungen liegen nahe. Wenn Jesus das Gottes¬
reich rein geistig faßte, wenn er mit dem Messiasnamen einen ganz andern
Begriff verband, als die jüdische Lorstellung war, wie kam es, daß er über¬
haupt diesen Titel annahm, daß er sich also, — wie man fast sagen muß —
für einen anderen ausgab, als er war? Und dann: wie kommt es, daß wir
in der ersten Gemeinde, bei den eigenen Jüngern Jesu doch wieder einen weit
sinnlicheren und selbst particularistischeren Messiasbegriff finden, der sich erst
durch die inneren Entwickelungen des Christenthums der ersten zwei Jahr¬
hunderte läuterte, aber auch zugleich so ins Uebernatürliche steigerte, daß er
im Grund sich von dem Gedanken Jesu noch weiter entfernte? In diesen bei¬
den Fragen liegt offenbar die Hauptschwierigkeit des ganzen Problems, das
nur durch eine Erklärung des urchristlicher Bewußtseins ganz gelöst werden
könnte.

Letzteres nun lag der Untersuchung Colanis ferner. Aber dem ersteren
Einwand, wie Jesus trotz seines geistig hohen und freien Standpunkts seinem
Berufe jene Aufschrift habe geben können, sucht er einmal durch die Erinnerung
an die allegorische Schnftauslcgung zu begegnen, deren sich damals jedermann
bediente. Jesus konnte es also aus Stellen des alten Testaments herauslesen,
daß der künftige König Israels anstatt ein zweiter David zu werden, das Loos
der Propheten und des „Knechts Gottes" im Jesaia theilen werde. War der-
Messias nicht ein siegreicher König, sondern vielmehr ein Opfer, so konnte er
unbedenklich sich für den Messias halten. Allein dieselbe Umwandlung des
Messiastypus war auch möglich ohne diese künstliche Herleitung aus der Schrift.
Jesus fühlt mehr und mehr seine Bestimmung, ein Mann des Opfers zu sein,
das Leben für seine Sache zu lassen; denn er kann nicht in Galiläa bleiben
ohne zurückzuweichen, und er kann nicht den Mächten in Jerusalem entgegen¬
gehen ohne sich dem sichern Tod auszusetzen. Dieses Entschlufies einmal ge¬
wiß, erkennt er es als Gottes unwürdig, wenn der Messias ein solcher wäre,
wie ihn die Juden erwarten und die Propheten verkündigten, daß der Messias


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0146" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/282387"/>
          <p xml:id="ID_338" prev="#ID_337"> Colani ist kühner und führt nun von diesem Punkte aus in einem glänzenden<lb/>
exegetischen Versuche aus, daß Jesus erst im Moment des Aufbruchs nach<lb/>
Galiläa sich den Mcssiasnamen beigelegt, daß er aber von ihm nur die Idee<lb/>
eines geistigen Hauptes der Menschheit sich angeeignet habe, daß er wohl<lb/>
Messias sein wollte, aber nicht ein triumphirender, sondern ein leidender und<lb/>
sterbender, daß er das Gottesreich als ein universelles menschheitliches Ideal auf¬<lb/>
gefaßt und an die Stelle der Katastrophen der Apokalypse» den Begriff einer<lb/>
organischen Entwicklung gesetzt habe. Auch nach dem Vielen, was schon über<lb/>
das Reich Gottes, den Namen Menschensohn u. s. w. geschrieben worden ist<lb/>
wird man die Erörterungen Colanis mit Nutzen lesen. Das Ganze ist eine<lb/>
originelle, scharfsinnig begründete Hypothese.  Aber es ist doch nur Hypothese.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_339"> Zwei gewichtige Einwendungen liegen nahe. Wenn Jesus das Gottes¬<lb/>
reich rein geistig faßte, wenn er mit dem Messiasnamen einen ganz andern<lb/>
Begriff verband, als die jüdische Lorstellung war, wie kam es, daß er über¬<lb/>
haupt diesen Titel annahm, daß er sich also, &#x2014; wie man fast sagen muß &#x2014;<lb/>
für einen anderen ausgab, als er war? Und dann: wie kommt es, daß wir<lb/>
in der ersten Gemeinde, bei den eigenen Jüngern Jesu doch wieder einen weit<lb/>
sinnlicheren und selbst particularistischeren Messiasbegriff finden, der sich erst<lb/>
durch die inneren Entwickelungen des Christenthums der ersten zwei Jahr¬<lb/>
hunderte läuterte, aber auch zugleich so ins Uebernatürliche steigerte, daß er<lb/>
im Grund sich von dem Gedanken Jesu noch weiter entfernte? In diesen bei¬<lb/>
den Fragen liegt offenbar die Hauptschwierigkeit des ganzen Problems, das<lb/>
nur durch eine Erklärung des urchristlicher Bewußtseins ganz gelöst werden<lb/>
könnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_340" next="#ID_341"> Letzteres nun lag der Untersuchung Colanis ferner. Aber dem ersteren<lb/>
Einwand, wie Jesus trotz seines geistig hohen und freien Standpunkts seinem<lb/>
Berufe jene Aufschrift habe geben können, sucht er einmal durch die Erinnerung<lb/>
an die allegorische Schnftauslcgung zu begegnen, deren sich damals jedermann<lb/>
bediente. Jesus konnte es also aus Stellen des alten Testaments herauslesen,<lb/>
daß der künftige König Israels anstatt ein zweiter David zu werden, das Loos<lb/>
der Propheten und des &#x201E;Knechts Gottes" im Jesaia theilen werde. War der-<lb/>
Messias nicht ein siegreicher König, sondern vielmehr ein Opfer, so konnte er<lb/>
unbedenklich sich für den Messias halten. Allein dieselbe Umwandlung des<lb/>
Messiastypus war auch möglich ohne diese künstliche Herleitung aus der Schrift.<lb/>
Jesus fühlt mehr und mehr seine Bestimmung, ein Mann des Opfers zu sein,<lb/>
das Leben für seine Sache zu lassen; denn er kann nicht in Galiläa bleiben<lb/>
ohne zurückzuweichen, und er kann nicht den Mächten in Jerusalem entgegen¬<lb/>
gehen ohne sich dem sichern Tod auszusetzen. Dieses Entschlufies einmal ge¬<lb/>
wiß, erkennt er es als Gottes unwürdig, wenn der Messias ein solcher wäre,<lb/>
wie ihn die Juden erwarten und die Propheten verkündigten, daß der Messias</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0146] Colani ist kühner und führt nun von diesem Punkte aus in einem glänzenden exegetischen Versuche aus, daß Jesus erst im Moment des Aufbruchs nach Galiläa sich den Mcssiasnamen beigelegt, daß er aber von ihm nur die Idee eines geistigen Hauptes der Menschheit sich angeeignet habe, daß er wohl Messias sein wollte, aber nicht ein triumphirender, sondern ein leidender und sterbender, daß er das Gottesreich als ein universelles menschheitliches Ideal auf¬ gefaßt und an die Stelle der Katastrophen der Apokalypse» den Begriff einer organischen Entwicklung gesetzt habe. Auch nach dem Vielen, was schon über das Reich Gottes, den Namen Menschensohn u. s. w. geschrieben worden ist wird man die Erörterungen Colanis mit Nutzen lesen. Das Ganze ist eine originelle, scharfsinnig begründete Hypothese. Aber es ist doch nur Hypothese. Zwei gewichtige Einwendungen liegen nahe. Wenn Jesus das Gottes¬ reich rein geistig faßte, wenn er mit dem Messiasnamen einen ganz andern Begriff verband, als die jüdische Lorstellung war, wie kam es, daß er über¬ haupt diesen Titel annahm, daß er sich also, — wie man fast sagen muß — für einen anderen ausgab, als er war? Und dann: wie kommt es, daß wir in der ersten Gemeinde, bei den eigenen Jüngern Jesu doch wieder einen weit sinnlicheren und selbst particularistischeren Messiasbegriff finden, der sich erst durch die inneren Entwickelungen des Christenthums der ersten zwei Jahr¬ hunderte läuterte, aber auch zugleich so ins Uebernatürliche steigerte, daß er im Grund sich von dem Gedanken Jesu noch weiter entfernte? In diesen bei¬ den Fragen liegt offenbar die Hauptschwierigkeit des ganzen Problems, das nur durch eine Erklärung des urchristlicher Bewußtseins ganz gelöst werden könnte. Letzteres nun lag der Untersuchung Colanis ferner. Aber dem ersteren Einwand, wie Jesus trotz seines geistig hohen und freien Standpunkts seinem Berufe jene Aufschrift habe geben können, sucht er einmal durch die Erinnerung an die allegorische Schnftauslcgung zu begegnen, deren sich damals jedermann bediente. Jesus konnte es also aus Stellen des alten Testaments herauslesen, daß der künftige König Israels anstatt ein zweiter David zu werden, das Loos der Propheten und des „Knechts Gottes" im Jesaia theilen werde. War der- Messias nicht ein siegreicher König, sondern vielmehr ein Opfer, so konnte er unbedenklich sich für den Messias halten. Allein dieselbe Umwandlung des Messiastypus war auch möglich ohne diese künstliche Herleitung aus der Schrift. Jesus fühlt mehr und mehr seine Bestimmung, ein Mann des Opfers zu sein, das Leben für seine Sache zu lassen; denn er kann nicht in Galiläa bleiben ohne zurückzuweichen, und er kann nicht den Mächten in Jerusalem entgegen¬ gehen ohne sich dem sichern Tod auszusetzen. Dieses Entschlufies einmal ge¬ wiß, erkennt er es als Gottes unwürdig, wenn der Messias ein solcher wäre, wie ihn die Juden erwarten und die Propheten verkündigten, daß der Messias

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/146
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/146>, abgerufen am 23.07.2024.