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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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ebenso, wie wenn in tausend Jahren ein Schriftsteller aus einem Dutzend
unserer Dichter die Belegstellen zusammentragen wollte, daß in der ersten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts das Volk der Deutschen erwartungsvoll den
Kyffhäuser umstanden, den Flug der alten Raben beobachtet und jeden Augen¬
blick die Erhebung des verzauberten Kaisers von seinem elfenbeinernen Stuhle
erwartet habe.

Wird der Messias vor oder nach dem Gericht erscheinen? Die Frage scheint
bei einem Gegenstande, der nur ,der Phantasie angehört, von wenig Bedeu¬
tung. Aber sie führt auf eine eigenthümliche chronologische Veränderung, welche
im Lauf der Zeit die messiaiuschen Ideen erfuhren. Die alttestamentliche Vor¬
stellung ist die. daß die kommenden Zeiten eingeleitet werden durch den Ge¬
richtsact, d. h. durch das Kommen Jehovas zur Entscheidungsschlacht gegen
die heidnischen Völker; denn die Intervention Gottes in den menschlichen An¬
gelegenheiten wurde eben als ein Gericht vorgestellt. Nach der Entscheidung
tritt erst der Messias auf und beherrscht das theokratische Reich. Nach der
christlichen Lehre geht umgekehrt das Messiasreich dem Gericht voraus, das
folgerichtig in eine höhere übernatürliche Sphäre gerückt ist; und was ein
weiterer unterscheidender Zug ist, der Messias fungirt selbst als Weltrichter,
während in der-jüdischen Prophetie dieses Amt stets Gott allein vorbehalten
ist. Diese chronologische Umwälzung tritt aber keineswegs plötzlich mit dem
Christenthum ein, sie ist vielmehr innerhalb des Judenthums selbst schon vor¬
bereitet und geht in der christlichen Epoche auch in die jüdischen Vorstellungen
ein. während andrerseits die Vorstellung vom Messias als dem Weltrichter auch
dem ältesten Christenthum noch fehlt und erst auf Paulus zurückzuführen ist,
der es ausdrücklich betont, daß seinem Evangelium zufolge Gott durch Jesus
Christus das Richteramt ausüben lassen wird, also der Neuerung sich wohl be¬
wußt war.

Noch in den Visionen Daniels wird erst nach dem Gericht das neue theo-
kratische Reich aufgerichtet, hier, wie schon gesagt, ohne persönlichen Messias.
Nun tritt aber im Buch Henoch und in den Weissagungen der Sibylle, unter
welcher Pseudonymen Form damals auch Juden ihre Ideen in der Heidenwelt
zu verbreiten suchten, die neue Vorstellung von einem starken glänzenden Fürsten
auf, dessen Herrschaft dem Gericht vorangeht. Im dritten Buch der sibyllinischen
Orakel, das von einem alexandrinischen Juden um die Middle des zweiten Jahr¬
hunderts v. Chr. verfaßt ist, sendet Gott vor dem Gericht vom Osten her einen
Fürsten, der eine glückliche Epoche für das Volk Gottes herausführt, während
dann nach der großen Katastrophe erst die allgemeine Friedcnsära auf der ganzen
Erde eintritt. -Jener Fürst vom Osten bezieht sich ohne Zweifel auf enim
Makkabäer, wie aus dem Buch Henoch hervorgeht, das bei der Schilde¬
rung der Herrschaft des Johannes Hyrkanos, gleichfalls vor dem Gericht, auf


Grenzboten I. 186S. 17

ebenso, wie wenn in tausend Jahren ein Schriftsteller aus einem Dutzend
unserer Dichter die Belegstellen zusammentragen wollte, daß in der ersten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts das Volk der Deutschen erwartungsvoll den
Kyffhäuser umstanden, den Flug der alten Raben beobachtet und jeden Augen¬
blick die Erhebung des verzauberten Kaisers von seinem elfenbeinernen Stuhle
erwartet habe.

Wird der Messias vor oder nach dem Gericht erscheinen? Die Frage scheint
bei einem Gegenstande, der nur ,der Phantasie angehört, von wenig Bedeu¬
tung. Aber sie führt auf eine eigenthümliche chronologische Veränderung, welche
im Lauf der Zeit die messiaiuschen Ideen erfuhren. Die alttestamentliche Vor¬
stellung ist die. daß die kommenden Zeiten eingeleitet werden durch den Ge¬
richtsact, d. h. durch das Kommen Jehovas zur Entscheidungsschlacht gegen
die heidnischen Völker; denn die Intervention Gottes in den menschlichen An¬
gelegenheiten wurde eben als ein Gericht vorgestellt. Nach der Entscheidung
tritt erst der Messias auf und beherrscht das theokratische Reich. Nach der
christlichen Lehre geht umgekehrt das Messiasreich dem Gericht voraus, das
folgerichtig in eine höhere übernatürliche Sphäre gerückt ist; und was ein
weiterer unterscheidender Zug ist, der Messias fungirt selbst als Weltrichter,
während in der-jüdischen Prophetie dieses Amt stets Gott allein vorbehalten
ist. Diese chronologische Umwälzung tritt aber keineswegs plötzlich mit dem
Christenthum ein, sie ist vielmehr innerhalb des Judenthums selbst schon vor¬
bereitet und geht in der christlichen Epoche auch in die jüdischen Vorstellungen
ein. während andrerseits die Vorstellung vom Messias als dem Weltrichter auch
dem ältesten Christenthum noch fehlt und erst auf Paulus zurückzuführen ist,
der es ausdrücklich betont, daß seinem Evangelium zufolge Gott durch Jesus
Christus das Richteramt ausüben lassen wird, also der Neuerung sich wohl be¬
wußt war.

Noch in den Visionen Daniels wird erst nach dem Gericht das neue theo-
kratische Reich aufgerichtet, hier, wie schon gesagt, ohne persönlichen Messias.
Nun tritt aber im Buch Henoch und in den Weissagungen der Sibylle, unter
welcher Pseudonymen Form damals auch Juden ihre Ideen in der Heidenwelt
zu verbreiten suchten, die neue Vorstellung von einem starken glänzenden Fürsten
auf, dessen Herrschaft dem Gericht vorangeht. Im dritten Buch der sibyllinischen
Orakel, das von einem alexandrinischen Juden um die Middle des zweiten Jahr¬
hunderts v. Chr. verfaßt ist, sendet Gott vor dem Gericht vom Osten her einen
Fürsten, der eine glückliche Epoche für das Volk Gottes herausführt, während
dann nach der großen Katastrophe erst die allgemeine Friedcnsära auf der ganzen
Erde eintritt. -Jener Fürst vom Osten bezieht sich ohne Zweifel auf enim
Makkabäer, wie aus dem Buch Henoch hervorgeht, das bei der Schilde¬
rung der Herrschaft des Johannes Hyrkanos, gleichfalls vor dem Gericht, auf


Grenzboten I. 186S. 17
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[0141] ebenso, wie wenn in tausend Jahren ein Schriftsteller aus einem Dutzend unserer Dichter die Belegstellen zusammentragen wollte, daß in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das Volk der Deutschen erwartungsvoll den Kyffhäuser umstanden, den Flug der alten Raben beobachtet und jeden Augen¬ blick die Erhebung des verzauberten Kaisers von seinem elfenbeinernen Stuhle erwartet habe. Wird der Messias vor oder nach dem Gericht erscheinen? Die Frage scheint bei einem Gegenstande, der nur ,der Phantasie angehört, von wenig Bedeu¬ tung. Aber sie führt auf eine eigenthümliche chronologische Veränderung, welche im Lauf der Zeit die messiaiuschen Ideen erfuhren. Die alttestamentliche Vor¬ stellung ist die. daß die kommenden Zeiten eingeleitet werden durch den Ge¬ richtsact, d. h. durch das Kommen Jehovas zur Entscheidungsschlacht gegen die heidnischen Völker; denn die Intervention Gottes in den menschlichen An¬ gelegenheiten wurde eben als ein Gericht vorgestellt. Nach der Entscheidung tritt erst der Messias auf und beherrscht das theokratische Reich. Nach der christlichen Lehre geht umgekehrt das Messiasreich dem Gericht voraus, das folgerichtig in eine höhere übernatürliche Sphäre gerückt ist; und was ein weiterer unterscheidender Zug ist, der Messias fungirt selbst als Weltrichter, während in der-jüdischen Prophetie dieses Amt stets Gott allein vorbehalten ist. Diese chronologische Umwälzung tritt aber keineswegs plötzlich mit dem Christenthum ein, sie ist vielmehr innerhalb des Judenthums selbst schon vor¬ bereitet und geht in der christlichen Epoche auch in die jüdischen Vorstellungen ein. während andrerseits die Vorstellung vom Messias als dem Weltrichter auch dem ältesten Christenthum noch fehlt und erst auf Paulus zurückzuführen ist, der es ausdrücklich betont, daß seinem Evangelium zufolge Gott durch Jesus Christus das Richteramt ausüben lassen wird, also der Neuerung sich wohl be¬ wußt war. Noch in den Visionen Daniels wird erst nach dem Gericht das neue theo- kratische Reich aufgerichtet, hier, wie schon gesagt, ohne persönlichen Messias. Nun tritt aber im Buch Henoch und in den Weissagungen der Sibylle, unter welcher Pseudonymen Form damals auch Juden ihre Ideen in der Heidenwelt zu verbreiten suchten, die neue Vorstellung von einem starken glänzenden Fürsten auf, dessen Herrschaft dem Gericht vorangeht. Im dritten Buch der sibyllinischen Orakel, das von einem alexandrinischen Juden um die Middle des zweiten Jahr¬ hunderts v. Chr. verfaßt ist, sendet Gott vor dem Gericht vom Osten her einen Fürsten, der eine glückliche Epoche für das Volk Gottes herausführt, während dann nach der großen Katastrophe erst die allgemeine Friedcnsära auf der ganzen Erde eintritt. -Jener Fürst vom Osten bezieht sich ohne Zweifel auf enim Makkabäer, wie aus dem Buch Henoch hervorgeht, das bei der Schilde¬ rung der Herrschaft des Johannes Hyrkanos, gleichfalls vor dem Gericht, auf Grenzboten I. 186S. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/141>, abgerufen am 23.07.2024.