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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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aus. daß auch der ganze bisherige' Lauf der deutschen Geschichte nur ge¬
waltsame Aneignungen, kein freiwilliges Resigniren beweise. Er kommt zu
dem Schluß, daß ein Bundesstaat nicht ausführbar sei und wenn er ausgeführt
werde, bei uns keine Lebensdauer habe" könne, und daß nur der Einheitsstaat,
das heißt Preußen zu Deutschland vergrößert, durch unsere Geschichte, wie durch
unsere politische Lage erreichbares Ziel sein könne, er verschweigt nicht, was
diesem Resultat zur Zeit entgegenstehe, vor allem widerwärtiges Wesen in
Preußen selbst. Zuletzt gehört zu den feinsten und geistvollsten Bemerkungen
der merkwürdigen Abhandlung ein schöner Vergleich italischer und deutscher
Zustände und sein Schluß: Wir sind zurückgeblieben, weil es uns nicht so
schlecht ging als den Italienern und weil durch Preußen auch die übrigen Deut¬
schen bereits Vieles von dem besitzen, was der nationale Sinn der Italiener
seit fünfzig Jahren in Qualen ersehnte.

Man darf diese Abhandlung ein Ereigniß nennen, nicht deshalb, weil sie
vieles Wahre und manches Neue fasst, sondern deshalb, weil sie einmal grade
heraus ohne allen Rückhalt sagt, was Viele denken, und Viele auszusprechen
anstehen. Kein Zweifel, man kann mit Erfolg gegen manchen Schluß in der
großen Kette seiner Beweise pvlemisiren, der Verfasser hat ja nur ins Bewußt¬
sein bringen wollen, was nach dem Zuge unserer Entwickelung, nach Beschaffen¬
heit der jetzt in Rechnung zu bringenden Factoren unwahrscheinlich, und
was vernünftig und möglich ist. Kaum eine der jetzt bestehenden Parteien,
selbst nicht die conservative in Preußen, welche der Verfasser grade am strengste"
verurtheilt, wird ihr Programm in seiner Abhandlung wiederfinden. Dem un¬
geachtet war grade jetzt zeitgemäß, daß ein fester Mann die innern Widersprüche
in den Schlagwörtern des Tages nachwies und den Parteien die Forderung
aufzwang, ihre Parteisätze und die Phrasen, welche sich daran hängen, gründlich
zu revidiren. In diesem Sinn war der Aufsatz eine That und der muthige
Verfasser soll dafür bedankt sein.

Ja es ist schwer, ruhig zu bleiben, wenn man nicht Engländer u"d Fran¬
zosen, sondern Deutsche den preußischen Staat fortwährend mit seiner gegen¬
wärtigen Regierung oder mit der unläugbaren.politischen Schwäche seiner Par¬
teien identificiren hört. Der Staat hat manche Mißregierung überdauert, er
wird noch manche ertragen, und wird doch dabei im Ganzen größer und stärker
werden. Wie viele Jahre hat England im vorigen Jahrhundert erlebt, in denen
seine Regierung so löblich war, daß der Engländer jetzt mit Freude darauf zu¬
rücksieht? Sehr wenige, und doch ist seit der Königin Anna das Jnselvolk
zu einem Weltreich ausgeschossen. Vieles in Preußen ist sehr ärgerlich, auch
die politische Entwickelung des Volkes ist dort in wesentlichen Punkten hinter


aus. daß auch der ganze bisherige' Lauf der deutschen Geschichte nur ge¬
waltsame Aneignungen, kein freiwilliges Resigniren beweise. Er kommt zu
dem Schluß, daß ein Bundesstaat nicht ausführbar sei und wenn er ausgeführt
werde, bei uns keine Lebensdauer habe» könne, und daß nur der Einheitsstaat,
das heißt Preußen zu Deutschland vergrößert, durch unsere Geschichte, wie durch
unsere politische Lage erreichbares Ziel sein könne, er verschweigt nicht, was
diesem Resultat zur Zeit entgegenstehe, vor allem widerwärtiges Wesen in
Preußen selbst. Zuletzt gehört zu den feinsten und geistvollsten Bemerkungen
der merkwürdigen Abhandlung ein schöner Vergleich italischer und deutscher
Zustände und sein Schluß: Wir sind zurückgeblieben, weil es uns nicht so
schlecht ging als den Italienern und weil durch Preußen auch die übrigen Deut¬
schen bereits Vieles von dem besitzen, was der nationale Sinn der Italiener
seit fünfzig Jahren in Qualen ersehnte.

Man darf diese Abhandlung ein Ereigniß nennen, nicht deshalb, weil sie
vieles Wahre und manches Neue fasst, sondern deshalb, weil sie einmal grade
heraus ohne allen Rückhalt sagt, was Viele denken, und Viele auszusprechen
anstehen. Kein Zweifel, man kann mit Erfolg gegen manchen Schluß in der
großen Kette seiner Beweise pvlemisiren, der Verfasser hat ja nur ins Bewußt¬
sein bringen wollen, was nach dem Zuge unserer Entwickelung, nach Beschaffen¬
heit der jetzt in Rechnung zu bringenden Factoren unwahrscheinlich, und
was vernünftig und möglich ist. Kaum eine der jetzt bestehenden Parteien,
selbst nicht die conservative in Preußen, welche der Verfasser grade am strengste»
verurtheilt, wird ihr Programm in seiner Abhandlung wiederfinden. Dem un¬
geachtet war grade jetzt zeitgemäß, daß ein fester Mann die innern Widersprüche
in den Schlagwörtern des Tages nachwies und den Parteien die Forderung
aufzwang, ihre Parteisätze und die Phrasen, welche sich daran hängen, gründlich
zu revidiren. In diesem Sinn war der Aufsatz eine That und der muthige
Verfasser soll dafür bedankt sein.

Ja es ist schwer, ruhig zu bleiben, wenn man nicht Engländer u»d Fran¬
zosen, sondern Deutsche den preußischen Staat fortwährend mit seiner gegen¬
wärtigen Regierung oder mit der unläugbaren.politischen Schwäche seiner Par¬
teien identificiren hört. Der Staat hat manche Mißregierung überdauert, er
wird noch manche ertragen, und wird doch dabei im Ganzen größer und stärker
werden. Wie viele Jahre hat England im vorigen Jahrhundert erlebt, in denen
seine Regierung so löblich war, daß der Engländer jetzt mit Freude darauf zu¬
rücksieht? Sehr wenige, und doch ist seit der Königin Anna das Jnselvolk
zu einem Weltreich ausgeschossen. Vieles in Preußen ist sehr ärgerlich, auch
die politische Entwickelung des Volkes ist dort in wesentlichen Punkten hinter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/11>, abgerufen am 23.07.2024.