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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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sammenhang der Formen, ihr lebendiges Gefüge, die klare und sichere Art,
wie in ihrem Ganzen der organische Bau der Natur zur schönen Erscheinung
gefaßt ist. verstehen und wiederbilden zu lernen. Wer auf diesem Wege vor¬
dringt, dem werden die Vorstellungen seiner eigenen Phantasie nicht ver¬
schwimmen, sondern immer deutlicher sich ausprägen. Wer aber in die Welt
der classischen Kunst, sei es der Antike oder der Renaissance, ganz aufgeht und
in ihr verloren scheint, weil er unter diesen stillen idealen Gestalten sich
heimischer fühlt, als in der drängenden Wirklichkeit des Tages, für den ist die
Gegenwart und ihr Inhalt doch nur ein spröder widerstrebender Stoff, den er
auch ohnedem in den Fiuh der Form nicht hätte bringen können. Der ist von
Haus aus den Interessen der Zeit entfremdet, er steht nur ihr gestaltloses
Wesen, nur das Angesicht derselben, welches der Kunst abgewendet ist; da er
sich einmal in die heitere Welt der letzteren flüchtet, thut er nicht Recht, in
ihrem schönsten Theile sich anzusiedeln?

Indessen, wenn auch die Formenwelt der Antike und der Renaissance das
eigentliche Vorbild für den modernen Künstler ist, so soll er deshalb auf sie
nicht beschränkt bleiben. Insbesondere bietet die Malerei, welche die verflossenen
Jahrhunderte als die eigentliche Kunst der Neuzeit nach allen Richtungen ent¬
wickelt haben, eine Mannigfaltigkeit in ihrer Art musterhafter Formen, nach
denen die Gegenwart sich bilden kann; wie denn neben den Venetianern nament¬
lich die belgische und holländische Schule das farbige Element, einerseits die
Pracht und den Schimmer der Stoffe und des Fleisches, andererseits das
ahnungsvolle Wechselspiel von Licht und Schatten, das Stimmnngsleben der
Luft und das eigenthümliche Verschwebcn der Dinge im harmonischen Ton des
Ganzen in meisterhafter Weise ausgebildet haben. Immer aber bleiben auch
für diejenige Kunst, welche eine ähnliche Richtung einschlägt, die classischen
Muster durch ihre große Anschauung der Natur, durch den schwungvollen und
sicheren Bau ihrer Formen die unentbehrliche Grundlage des Studiums. Daß
eine einseitig coloristische Schule nach den Borbildern jener zweiten Gattung es
in der Behandlung monumentaler Stoffe meistens nicht weiter bringt, als zu
einer überraschenden Wirkung, welche sich bald überlebt, das hat sich an der
neuesten belgischen Malerei gezeigt.

Auf die Nothwendigkeit der Kunstbildung, die für den unbefangenen
Blick längst außer Zweifel ist. haben wir hier noch einmal deshalb die Rede
gebracht, weil aus ihrer Vernachlässigung zum großen Theil die Schwächen
und Mängel herrühren, welche bis auf den heutigen Tag eine ganze Classe
von monumentalen Werken der Münchner Kunst kennzeichnen. Schon Cor¬
nelius hat es mit dem Studium der großen Vorbilder nicht allzu genau
genommen; um von der Farbe nicht' zu reden, ist auch die künstlerische
Durchbildung seiner Formengebung mehr als zweifelhaft. Indessen spricht


sammenhang der Formen, ihr lebendiges Gefüge, die klare und sichere Art,
wie in ihrem Ganzen der organische Bau der Natur zur schönen Erscheinung
gefaßt ist. verstehen und wiederbilden zu lernen. Wer auf diesem Wege vor¬
dringt, dem werden die Vorstellungen seiner eigenen Phantasie nicht ver¬
schwimmen, sondern immer deutlicher sich ausprägen. Wer aber in die Welt
der classischen Kunst, sei es der Antike oder der Renaissance, ganz aufgeht und
in ihr verloren scheint, weil er unter diesen stillen idealen Gestalten sich
heimischer fühlt, als in der drängenden Wirklichkeit des Tages, für den ist die
Gegenwart und ihr Inhalt doch nur ein spröder widerstrebender Stoff, den er
auch ohnedem in den Fiuh der Form nicht hätte bringen können. Der ist von
Haus aus den Interessen der Zeit entfremdet, er steht nur ihr gestaltloses
Wesen, nur das Angesicht derselben, welches der Kunst abgewendet ist; da er
sich einmal in die heitere Welt der letzteren flüchtet, thut er nicht Recht, in
ihrem schönsten Theile sich anzusiedeln?

Indessen, wenn auch die Formenwelt der Antike und der Renaissance das
eigentliche Vorbild für den modernen Künstler ist, so soll er deshalb auf sie
nicht beschränkt bleiben. Insbesondere bietet die Malerei, welche die verflossenen
Jahrhunderte als die eigentliche Kunst der Neuzeit nach allen Richtungen ent¬
wickelt haben, eine Mannigfaltigkeit in ihrer Art musterhafter Formen, nach
denen die Gegenwart sich bilden kann; wie denn neben den Venetianern nament¬
lich die belgische und holländische Schule das farbige Element, einerseits die
Pracht und den Schimmer der Stoffe und des Fleisches, andererseits das
ahnungsvolle Wechselspiel von Licht und Schatten, das Stimmnngsleben der
Luft und das eigenthümliche Verschwebcn der Dinge im harmonischen Ton des
Ganzen in meisterhafter Weise ausgebildet haben. Immer aber bleiben auch
für diejenige Kunst, welche eine ähnliche Richtung einschlägt, die classischen
Muster durch ihre große Anschauung der Natur, durch den schwungvollen und
sicheren Bau ihrer Formen die unentbehrliche Grundlage des Studiums. Daß
eine einseitig coloristische Schule nach den Borbildern jener zweiten Gattung es
in der Behandlung monumentaler Stoffe meistens nicht weiter bringt, als zu
einer überraschenden Wirkung, welche sich bald überlebt, das hat sich an der
neuesten belgischen Malerei gezeigt.

Auf die Nothwendigkeit der Kunstbildung, die für den unbefangenen
Blick längst außer Zweifel ist. haben wir hier noch einmal deshalb die Rede
gebracht, weil aus ihrer Vernachlässigung zum großen Theil die Schwächen
und Mängel herrühren, welche bis auf den heutigen Tag eine ganze Classe
von monumentalen Werken der Münchner Kunst kennzeichnen. Schon Cor¬
nelius hat es mit dem Studium der großen Vorbilder nicht allzu genau
genommen; um von der Farbe nicht' zu reden, ist auch die künstlerische
Durchbildung seiner Formengebung mehr als zweifelhaft. Indessen spricht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/100>, abgerufen am 23.07.2024.