Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Joche zu befreien, welches in einer Zeit der zügellosesten feudalen Anarchie
ihm auferlegt war. Jede Abweichung von den Grundsätzen eines stetigen Fort-
schreitens, wie sie allerdings mehre Male theils in Folge' einer Erschlaffung
der staatlichen Organe, theils unter dem Drucke finanzieller Verlegenheiten vor¬
gekommen ist, hat sich empfindlich gerächt; die Strafe der Versäumnis) ist aber
stets ein Antrieb zu erneuertem Aufschwünge und gesteigerter Thätigkeit in der
alten bewährten Richtung geworden.

So geschah der für alle folgende Zeit entscheidende Schritt auf dieser Bahn
nach dem Falle des Staates in den Jahren 1806 und 1807. So bewunde¬
rungswürdig die reformirende Thätigkeit jener wahrhaft schöpferischen Periode
an sich schon ist, noch größer erscheint sie, wenn man erwägt, daß die neue den
Boden befreiende und die gebundene Kraft des Volkes lösende Gesetzgebung in
dem Sinne ihrer Urheber nur die Einleitung für eine allseitige politische Ent¬
wicklung im größten Maßstabe sein sollte. Diese weiteren Pläne, die der kö¬
niglichen Initiative die höchste Aufgabe zuweisen, welche dem Königthum zufallen
kann, gingen aber nicht in Erfüllung: nach Beendigung der Kricgsperiode stockte
die schöpferische Thätigkeit; die Strömung stand still, um bald rückwärts zu
gehen.

An diese große Gesetzgebung schließt die Verfassung ihrem Geiste nach sich
an; aber die Verbindung ist noch eine lockere, unvollständige, da die Mittel¬
glieder fehlen: diese zu schaffen, blieb dem Verfassungsstaate vorbehalten. Und
in der That war man sich anfangs dieser Aufgabe wohl bewußt und insbeson¬
dere von der Nothwendigkeit einer totalen Umgestaltung der Kreis- und Ge-
meindeordnung überzeugt. Aber unter dem Drucke der Reaction, die nach den
letzten revolutionären Zuckungen der Jahre 1848 und 1849 bei der allgemei¬
nen Abspannung selbstbewußter und kräftiger als je zuvor auftrat, verlor man
diese Gesichtspunkte rasch aus dem Auge: die bereits abgescbaffte Patrimonial-
polizci wurde wieder hergestellt; die Verfassung wurde zum Vehikel für Bestre¬
bungen, die nicht nur dem constiturionellen System, sondern auch den alt-
preußischen Traditionen widersprachen. Unter der Wirkung dieser Tendenzen,
die auf dem parlamentarischen Boden sich in voller Freiheit entfalten konnten,
wurde denn auch das Herrenhaus in einer Weise organisirt, die den retrogra-
den Tendenzen auf lange Zeit einen maßgebenden Einfluß verbürgt. Die neue
Aera hatte eine gewaltige Aufgabe vor sich, wenn sie die entstandenen Mi߬
bildungen beseitigen und die innere Organisation wieder an die altpreußischen
Grundsätze anknüpfen wollte. Daß sie die Bedeutung ihrer Mission erfaßt
hatte, stellen auch die Gegner nicht ernstlich in Abrede. Was sie erreicht bat,
war größer, als es dem ungeduldigen Triebe nach Fortschritt und Reform er¬
schien; was sie erstrebt hat, wird noch auf lange hin die Ziele bezeichnen, welche
die liberale Partei zu verfolgen hat. An den Fall des liberalen Ministeriums


Grenzboten IV. 18K4. 12

Joche zu befreien, welches in einer Zeit der zügellosesten feudalen Anarchie
ihm auferlegt war. Jede Abweichung von den Grundsätzen eines stetigen Fort-
schreitens, wie sie allerdings mehre Male theils in Folge' einer Erschlaffung
der staatlichen Organe, theils unter dem Drucke finanzieller Verlegenheiten vor¬
gekommen ist, hat sich empfindlich gerächt; die Strafe der Versäumnis) ist aber
stets ein Antrieb zu erneuertem Aufschwünge und gesteigerter Thätigkeit in der
alten bewährten Richtung geworden.

So geschah der für alle folgende Zeit entscheidende Schritt auf dieser Bahn
nach dem Falle des Staates in den Jahren 1806 und 1807. So bewunde¬
rungswürdig die reformirende Thätigkeit jener wahrhaft schöpferischen Periode
an sich schon ist, noch größer erscheint sie, wenn man erwägt, daß die neue den
Boden befreiende und die gebundene Kraft des Volkes lösende Gesetzgebung in
dem Sinne ihrer Urheber nur die Einleitung für eine allseitige politische Ent¬
wicklung im größten Maßstabe sein sollte. Diese weiteren Pläne, die der kö¬
niglichen Initiative die höchste Aufgabe zuweisen, welche dem Königthum zufallen
kann, gingen aber nicht in Erfüllung: nach Beendigung der Kricgsperiode stockte
die schöpferische Thätigkeit; die Strömung stand still, um bald rückwärts zu
gehen.

An diese große Gesetzgebung schließt die Verfassung ihrem Geiste nach sich
an; aber die Verbindung ist noch eine lockere, unvollständige, da die Mittel¬
glieder fehlen: diese zu schaffen, blieb dem Verfassungsstaate vorbehalten. Und
in der That war man sich anfangs dieser Aufgabe wohl bewußt und insbeson¬
dere von der Nothwendigkeit einer totalen Umgestaltung der Kreis- und Ge-
meindeordnung überzeugt. Aber unter dem Drucke der Reaction, die nach den
letzten revolutionären Zuckungen der Jahre 1848 und 1849 bei der allgemei¬
nen Abspannung selbstbewußter und kräftiger als je zuvor auftrat, verlor man
diese Gesichtspunkte rasch aus dem Auge: die bereits abgescbaffte Patrimonial-
polizci wurde wieder hergestellt; die Verfassung wurde zum Vehikel für Bestre¬
bungen, die nicht nur dem constiturionellen System, sondern auch den alt-
preußischen Traditionen widersprachen. Unter der Wirkung dieser Tendenzen,
die auf dem parlamentarischen Boden sich in voller Freiheit entfalten konnten,
wurde denn auch das Herrenhaus in einer Weise organisirt, die den retrogra-
den Tendenzen auf lange Zeit einen maßgebenden Einfluß verbürgt. Die neue
Aera hatte eine gewaltige Aufgabe vor sich, wenn sie die entstandenen Mi߬
bildungen beseitigen und die innere Organisation wieder an die altpreußischen
Grundsätze anknüpfen wollte. Daß sie die Bedeutung ihrer Mission erfaßt
hatte, stellen auch die Gegner nicht ernstlich in Abrede. Was sie erreicht bat,
war größer, als es dem ungeduldigen Triebe nach Fortschritt und Reform er¬
schien; was sie erstrebt hat, wird noch auf lange hin die Ziele bezeichnen, welche
die liberale Partei zu verfolgen hat. An den Fall des liberalen Ministeriums


Grenzboten IV. 18K4. 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0093" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/189717"/>
          <p xml:id="ID_322" prev="#ID_321"> Joche zu befreien, welches in einer Zeit der zügellosesten feudalen Anarchie<lb/>
ihm auferlegt war. Jede Abweichung von den Grundsätzen eines stetigen Fort-<lb/>
schreitens, wie sie allerdings mehre Male theils in Folge' einer Erschlaffung<lb/>
der staatlichen Organe, theils unter dem Drucke finanzieller Verlegenheiten vor¬<lb/>
gekommen ist, hat sich empfindlich gerächt; die Strafe der Versäumnis) ist aber<lb/>
stets ein Antrieb zu erneuertem Aufschwünge und gesteigerter Thätigkeit in der<lb/>
alten bewährten Richtung geworden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_323"> So geschah der für alle folgende Zeit entscheidende Schritt auf dieser Bahn<lb/>
nach dem Falle des Staates in den Jahren 1806 und 1807. So bewunde¬<lb/>
rungswürdig die reformirende Thätigkeit jener wahrhaft schöpferischen Periode<lb/>
an sich schon ist, noch größer erscheint sie, wenn man erwägt, daß die neue den<lb/>
Boden befreiende und die gebundene Kraft des Volkes lösende Gesetzgebung in<lb/>
dem Sinne ihrer Urheber nur die Einleitung für eine allseitige politische Ent¬<lb/>
wicklung im größten Maßstabe sein sollte. Diese weiteren Pläne, die der kö¬<lb/>
niglichen Initiative die höchste Aufgabe zuweisen, welche dem Königthum zufallen<lb/>
kann, gingen aber nicht in Erfüllung: nach Beendigung der Kricgsperiode stockte<lb/>
die schöpferische Thätigkeit; die Strömung stand still, um bald rückwärts zu<lb/>
gehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_324" next="#ID_325"> An diese große Gesetzgebung schließt die Verfassung ihrem Geiste nach sich<lb/>
an; aber die Verbindung ist noch eine lockere, unvollständige, da die Mittel¬<lb/>
glieder fehlen: diese zu schaffen, blieb dem Verfassungsstaate vorbehalten. Und<lb/>
in der That war man sich anfangs dieser Aufgabe wohl bewußt und insbeson¬<lb/>
dere von der Nothwendigkeit einer totalen Umgestaltung der Kreis- und Ge-<lb/>
meindeordnung überzeugt. Aber unter dem Drucke der Reaction, die nach den<lb/>
letzten revolutionären Zuckungen der Jahre 1848 und 1849 bei der allgemei¬<lb/>
nen Abspannung selbstbewußter und kräftiger als je zuvor auftrat, verlor man<lb/>
diese Gesichtspunkte rasch aus dem Auge: die bereits abgescbaffte Patrimonial-<lb/>
polizci wurde wieder hergestellt; die Verfassung wurde zum Vehikel für Bestre¬<lb/>
bungen, die nicht nur dem constiturionellen System, sondern auch den alt-<lb/>
preußischen Traditionen widersprachen. Unter der Wirkung dieser Tendenzen,<lb/>
die auf dem parlamentarischen Boden sich in voller Freiheit entfalten konnten,<lb/>
wurde denn auch das Herrenhaus in einer Weise organisirt, die den retrogra-<lb/>
den Tendenzen auf lange Zeit einen maßgebenden Einfluß verbürgt. Die neue<lb/>
Aera hatte eine gewaltige Aufgabe vor sich, wenn sie die entstandenen Mi߬<lb/>
bildungen beseitigen und die innere Organisation wieder an die altpreußischen<lb/>
Grundsätze anknüpfen wollte. Daß sie die Bedeutung ihrer Mission erfaßt<lb/>
hatte, stellen auch die Gegner nicht ernstlich in Abrede. Was sie erreicht bat,<lb/>
war größer, als es dem ungeduldigen Triebe nach Fortschritt und Reform er¬<lb/>
schien; was sie erstrebt hat, wird noch auf lange hin die Ziele bezeichnen, welche<lb/>
die liberale Partei zu verfolgen hat. An den Fall des liberalen Ministeriums</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 18K4. 12</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0093] Joche zu befreien, welches in einer Zeit der zügellosesten feudalen Anarchie ihm auferlegt war. Jede Abweichung von den Grundsätzen eines stetigen Fort- schreitens, wie sie allerdings mehre Male theils in Folge' einer Erschlaffung der staatlichen Organe, theils unter dem Drucke finanzieller Verlegenheiten vor¬ gekommen ist, hat sich empfindlich gerächt; die Strafe der Versäumnis) ist aber stets ein Antrieb zu erneuertem Aufschwünge und gesteigerter Thätigkeit in der alten bewährten Richtung geworden. So geschah der für alle folgende Zeit entscheidende Schritt auf dieser Bahn nach dem Falle des Staates in den Jahren 1806 und 1807. So bewunde¬ rungswürdig die reformirende Thätigkeit jener wahrhaft schöpferischen Periode an sich schon ist, noch größer erscheint sie, wenn man erwägt, daß die neue den Boden befreiende und die gebundene Kraft des Volkes lösende Gesetzgebung in dem Sinne ihrer Urheber nur die Einleitung für eine allseitige politische Ent¬ wicklung im größten Maßstabe sein sollte. Diese weiteren Pläne, die der kö¬ niglichen Initiative die höchste Aufgabe zuweisen, welche dem Königthum zufallen kann, gingen aber nicht in Erfüllung: nach Beendigung der Kricgsperiode stockte die schöpferische Thätigkeit; die Strömung stand still, um bald rückwärts zu gehen. An diese große Gesetzgebung schließt die Verfassung ihrem Geiste nach sich an; aber die Verbindung ist noch eine lockere, unvollständige, da die Mittel¬ glieder fehlen: diese zu schaffen, blieb dem Verfassungsstaate vorbehalten. Und in der That war man sich anfangs dieser Aufgabe wohl bewußt und insbeson¬ dere von der Nothwendigkeit einer totalen Umgestaltung der Kreis- und Ge- meindeordnung überzeugt. Aber unter dem Drucke der Reaction, die nach den letzten revolutionären Zuckungen der Jahre 1848 und 1849 bei der allgemei¬ nen Abspannung selbstbewußter und kräftiger als je zuvor auftrat, verlor man diese Gesichtspunkte rasch aus dem Auge: die bereits abgescbaffte Patrimonial- polizci wurde wieder hergestellt; die Verfassung wurde zum Vehikel für Bestre¬ bungen, die nicht nur dem constiturionellen System, sondern auch den alt- preußischen Traditionen widersprachen. Unter der Wirkung dieser Tendenzen, die auf dem parlamentarischen Boden sich in voller Freiheit entfalten konnten, wurde denn auch das Herrenhaus in einer Weise organisirt, die den retrogra- den Tendenzen auf lange Zeit einen maßgebenden Einfluß verbürgt. Die neue Aera hatte eine gewaltige Aufgabe vor sich, wenn sie die entstandenen Mi߬ bildungen beseitigen und die innere Organisation wieder an die altpreußischen Grundsätze anknüpfen wollte. Daß sie die Bedeutung ihrer Mission erfaßt hatte, stellen auch die Gegner nicht ernstlich in Abrede. Was sie erreicht bat, war größer, als es dem ungeduldigen Triebe nach Fortschritt und Reform er¬ schien; was sie erstrebt hat, wird noch auf lange hin die Ziele bezeichnen, welche die liberale Partei zu verfolgen hat. An den Fall des liberalen Ministeriums Grenzboten IV. 18K4. 12

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/93
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/93>, abgerufen am 01.10.2024.