Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

In unwiderstehlicher, motorischer Weise ist dies aber dargelegt durch die
Verfassungsrevision. Aus den damaligen Verhandlungen ergiebt sich unzwei¬
deutig, daß man sich der Tragweite der Verfassung wohl bewußt war; die
Stimmen. welche dieselbe durch künstliche Interpretationen zu beschränken such¬
ten, waren vereinzelt; wo ein Paragraph der Macht der .Krone zu nahe zu treten
schien, emcndirte man ihn oder hob ihn auf, was auch offenbar das einzig
richtige und loyale Verfahren war. Daß man i" den folgenden Jahren unter
dem Einfluß einer starken reactionären Strömung das richtige Maß im Revi-
diren überschritt, beweist eben nur. daß man sich der ernsten Bedenken, die
eine künstliche Interpretation für die Sicherheit des Staatswesens hat, be¬
wußt war.

Daher würde, wenn in Preußen ein Gerichtshof bestände, der über Ver-
fassungscvnflicte zu entscheiden hätte, dies unzweifelhaft sein, daß er in streitigen
Fällen aus den Berichten über die Verhandlungen die Intentionen des Gesetz¬
gebers zu erkennen suchen und nach ihnen die Entscheidung treffen würde. Da
ein derartiges Institut nicht besteht, so ist es Sache der Wissenschaft, in allen
Fällen, wo Zweifel wirtlich erhoben sind oder wo der Wortlaut dieser oder
jener Bestimmung zu Zweifeln Veranlassung geben könnte, nach den angeführten
Grundsätzen das verfassungsmäßige Recht zu erläutern und durch wissenschaft¬
liche Präjudize der Gesetzgebung vorzuarbeiten. Die Gesetzgebung aber wird
unter günstigen Verhältnissen sich die Arbeit nicht verdrießen lassen dürfen,
durch genaue und ausführliche, alle Eventualitäten berücksichtigende Fassung die
Bestimmung der Verfassung aller Zweifel zu enthebe" und allen bedenklichen
Experimenten der Auslegungslunst zu entziehen. Dies ist aber um so noth¬
wendiger, wenn man bedenkt, daß die Beschaffenheit der Urkunde einer künst¬
lichen und tendenziösen Interpretation manche Handhabe bietet.

Bei der Ausarbeitung der Verfassung ist offenbar das Streben nach Kürze
und Präcision des Ausdrucks maßgebend gewesen. So ist ein massenhafter
Inhalt in einen verhältnißmäßig engen Raum zusammengedrängt. Wenn man
nun erwägt, wie auch das unbedeutendste Gesetz stets eine Fülle von Specia¬
litäten und Eventualitäten zu berücksichtigen hat. so kann man sich nicht wun¬
dern, daß die Verfassungsurl'unde vielfach statt ausgeführter auf alle Fälle be¬
rechneter Gesetze nur leitende Grundsätze und Normen enthält. Denn der knappe
Rahmen einer Urkunde ist nicht ausreichend für die legislatorische Specialisirung.
In vielen Fällen ist daher mit vollem Bewußtsein nur eine Norm hingestellt
und der Specialgesetzgebung die weitere Ausführung vorbehalten worden.
Hierher gehört z, B. der Paragraph über die Ministervcrantwortlichkcit. Die
Ministerveranlwortlichkeit besteht demgemäß zu Recht, aber eben nur als eine Rechts-
forderung, da eine Verantwortlichkeit nur dann praktische Bedeutung hat,
wenn bestimmte Vergehen mit bestimmter Strafe bedroht, wenn ferner die Moda-


In unwiderstehlicher, motorischer Weise ist dies aber dargelegt durch die
Verfassungsrevision. Aus den damaligen Verhandlungen ergiebt sich unzwei¬
deutig, daß man sich der Tragweite der Verfassung wohl bewußt war; die
Stimmen. welche dieselbe durch künstliche Interpretationen zu beschränken such¬
ten, waren vereinzelt; wo ein Paragraph der Macht der .Krone zu nahe zu treten
schien, emcndirte man ihn oder hob ihn auf, was auch offenbar das einzig
richtige und loyale Verfahren war. Daß man i» den folgenden Jahren unter
dem Einfluß einer starken reactionären Strömung das richtige Maß im Revi-
diren überschritt, beweist eben nur. daß man sich der ernsten Bedenken, die
eine künstliche Interpretation für die Sicherheit des Staatswesens hat, be¬
wußt war.

Daher würde, wenn in Preußen ein Gerichtshof bestände, der über Ver-
fassungscvnflicte zu entscheiden hätte, dies unzweifelhaft sein, daß er in streitigen
Fällen aus den Berichten über die Verhandlungen die Intentionen des Gesetz¬
gebers zu erkennen suchen und nach ihnen die Entscheidung treffen würde. Da
ein derartiges Institut nicht besteht, so ist es Sache der Wissenschaft, in allen
Fällen, wo Zweifel wirtlich erhoben sind oder wo der Wortlaut dieser oder
jener Bestimmung zu Zweifeln Veranlassung geben könnte, nach den angeführten
Grundsätzen das verfassungsmäßige Recht zu erläutern und durch wissenschaft¬
liche Präjudize der Gesetzgebung vorzuarbeiten. Die Gesetzgebung aber wird
unter günstigen Verhältnissen sich die Arbeit nicht verdrießen lassen dürfen,
durch genaue und ausführliche, alle Eventualitäten berücksichtigende Fassung die
Bestimmung der Verfassung aller Zweifel zu enthebe» und allen bedenklichen
Experimenten der Auslegungslunst zu entziehen. Dies ist aber um so noth¬
wendiger, wenn man bedenkt, daß die Beschaffenheit der Urkunde einer künst¬
lichen und tendenziösen Interpretation manche Handhabe bietet.

Bei der Ausarbeitung der Verfassung ist offenbar das Streben nach Kürze
und Präcision des Ausdrucks maßgebend gewesen. So ist ein massenhafter
Inhalt in einen verhältnißmäßig engen Raum zusammengedrängt. Wenn man
nun erwägt, wie auch das unbedeutendste Gesetz stets eine Fülle von Specia¬
litäten und Eventualitäten zu berücksichtigen hat. so kann man sich nicht wun¬
dern, daß die Verfassungsurl'unde vielfach statt ausgeführter auf alle Fälle be¬
rechneter Gesetze nur leitende Grundsätze und Normen enthält. Denn der knappe
Rahmen einer Urkunde ist nicht ausreichend für die legislatorische Specialisirung.
In vielen Fällen ist daher mit vollem Bewußtsein nur eine Norm hingestellt
und der Specialgesetzgebung die weitere Ausführung vorbehalten worden.
Hierher gehört z, B. der Paragraph über die Ministervcrantwortlichkcit. Die
Ministerveranlwortlichkeit besteht demgemäß zu Recht, aber eben nur als eine Rechts-
forderung, da eine Verantwortlichkeit nur dann praktische Bedeutung hat,
wenn bestimmte Vergehen mit bestimmter Strafe bedroht, wenn ferner die Moda-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/189714"/>
          <p xml:id="ID_312"> In unwiderstehlicher, motorischer Weise ist dies aber dargelegt durch die<lb/>
Verfassungsrevision. Aus den damaligen Verhandlungen ergiebt sich unzwei¬<lb/>
deutig, daß man sich der Tragweite der Verfassung wohl bewußt war; die<lb/>
Stimmen. welche dieselbe durch künstliche Interpretationen zu beschränken such¬<lb/>
ten, waren vereinzelt; wo ein Paragraph der Macht der .Krone zu nahe zu treten<lb/>
schien, emcndirte man ihn oder hob ihn auf, was auch offenbar das einzig<lb/>
richtige und loyale Verfahren war. Daß man i» den folgenden Jahren unter<lb/>
dem Einfluß einer starken reactionären Strömung das richtige Maß im Revi-<lb/>
diren überschritt, beweist eben nur. daß man sich der ernsten Bedenken, die<lb/>
eine künstliche Interpretation für die Sicherheit des Staatswesens hat, be¬<lb/>
wußt war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_313"> Daher würde, wenn in Preußen ein Gerichtshof bestände, der über Ver-<lb/>
fassungscvnflicte zu entscheiden hätte, dies unzweifelhaft sein, daß er in streitigen<lb/>
Fällen aus den Berichten über die Verhandlungen die Intentionen des Gesetz¬<lb/>
gebers zu erkennen suchen und nach ihnen die Entscheidung treffen würde. Da<lb/>
ein derartiges Institut nicht besteht, so ist es Sache der Wissenschaft, in allen<lb/>
Fällen, wo Zweifel wirtlich erhoben sind oder wo der Wortlaut dieser oder<lb/>
jener Bestimmung zu Zweifeln Veranlassung geben könnte, nach den angeführten<lb/>
Grundsätzen das verfassungsmäßige Recht zu erläutern und durch wissenschaft¬<lb/>
liche Präjudize der Gesetzgebung vorzuarbeiten. Die Gesetzgebung aber wird<lb/>
unter günstigen Verhältnissen sich die Arbeit nicht verdrießen lassen dürfen,<lb/>
durch genaue und ausführliche, alle Eventualitäten berücksichtigende Fassung die<lb/>
Bestimmung der Verfassung aller Zweifel zu enthebe» und allen bedenklichen<lb/>
Experimenten der Auslegungslunst zu entziehen. Dies ist aber um so noth¬<lb/>
wendiger, wenn man bedenkt, daß die Beschaffenheit der Urkunde einer künst¬<lb/>
lichen und tendenziösen Interpretation manche Handhabe bietet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_314" next="#ID_315"> Bei der Ausarbeitung der Verfassung ist offenbar das Streben nach Kürze<lb/>
und Präcision des Ausdrucks maßgebend gewesen. So ist ein massenhafter<lb/>
Inhalt in einen verhältnißmäßig engen Raum zusammengedrängt. Wenn man<lb/>
nun erwägt, wie auch das unbedeutendste Gesetz stets eine Fülle von Specia¬<lb/>
litäten und Eventualitäten zu berücksichtigen hat. so kann man sich nicht wun¬<lb/>
dern, daß die Verfassungsurl'unde vielfach statt ausgeführter auf alle Fälle be¬<lb/>
rechneter Gesetze nur leitende Grundsätze und Normen enthält. Denn der knappe<lb/>
Rahmen einer Urkunde ist nicht ausreichend für die legislatorische Specialisirung.<lb/>
In vielen Fällen ist daher mit vollem Bewußtsein nur eine Norm hingestellt<lb/>
und der Specialgesetzgebung die weitere Ausführung vorbehalten worden.<lb/>
Hierher gehört z, B. der Paragraph über die Ministervcrantwortlichkcit. Die<lb/>
Ministerveranlwortlichkeit besteht demgemäß zu Recht, aber eben nur als eine Rechts-<lb/>
forderung, da eine Verantwortlichkeit nur dann praktische Bedeutung hat,<lb/>
wenn bestimmte Vergehen mit bestimmter Strafe bedroht, wenn ferner die Moda-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0090] In unwiderstehlicher, motorischer Weise ist dies aber dargelegt durch die Verfassungsrevision. Aus den damaligen Verhandlungen ergiebt sich unzwei¬ deutig, daß man sich der Tragweite der Verfassung wohl bewußt war; die Stimmen. welche dieselbe durch künstliche Interpretationen zu beschränken such¬ ten, waren vereinzelt; wo ein Paragraph der Macht der .Krone zu nahe zu treten schien, emcndirte man ihn oder hob ihn auf, was auch offenbar das einzig richtige und loyale Verfahren war. Daß man i» den folgenden Jahren unter dem Einfluß einer starken reactionären Strömung das richtige Maß im Revi- diren überschritt, beweist eben nur. daß man sich der ernsten Bedenken, die eine künstliche Interpretation für die Sicherheit des Staatswesens hat, be¬ wußt war. Daher würde, wenn in Preußen ein Gerichtshof bestände, der über Ver- fassungscvnflicte zu entscheiden hätte, dies unzweifelhaft sein, daß er in streitigen Fällen aus den Berichten über die Verhandlungen die Intentionen des Gesetz¬ gebers zu erkennen suchen und nach ihnen die Entscheidung treffen würde. Da ein derartiges Institut nicht besteht, so ist es Sache der Wissenschaft, in allen Fällen, wo Zweifel wirtlich erhoben sind oder wo der Wortlaut dieser oder jener Bestimmung zu Zweifeln Veranlassung geben könnte, nach den angeführten Grundsätzen das verfassungsmäßige Recht zu erläutern und durch wissenschaft¬ liche Präjudize der Gesetzgebung vorzuarbeiten. Die Gesetzgebung aber wird unter günstigen Verhältnissen sich die Arbeit nicht verdrießen lassen dürfen, durch genaue und ausführliche, alle Eventualitäten berücksichtigende Fassung die Bestimmung der Verfassung aller Zweifel zu enthebe» und allen bedenklichen Experimenten der Auslegungslunst zu entziehen. Dies ist aber um so noth¬ wendiger, wenn man bedenkt, daß die Beschaffenheit der Urkunde einer künst¬ lichen und tendenziösen Interpretation manche Handhabe bietet. Bei der Ausarbeitung der Verfassung ist offenbar das Streben nach Kürze und Präcision des Ausdrucks maßgebend gewesen. So ist ein massenhafter Inhalt in einen verhältnißmäßig engen Raum zusammengedrängt. Wenn man nun erwägt, wie auch das unbedeutendste Gesetz stets eine Fülle von Specia¬ litäten und Eventualitäten zu berücksichtigen hat. so kann man sich nicht wun¬ dern, daß die Verfassungsurl'unde vielfach statt ausgeführter auf alle Fälle be¬ rechneter Gesetze nur leitende Grundsätze und Normen enthält. Denn der knappe Rahmen einer Urkunde ist nicht ausreichend für die legislatorische Specialisirung. In vielen Fällen ist daher mit vollem Bewußtsein nur eine Norm hingestellt und der Specialgesetzgebung die weitere Ausführung vorbehalten worden. Hierher gehört z, B. der Paragraph über die Ministervcrantwortlichkcit. Die Ministerveranlwortlichkeit besteht demgemäß zu Recht, aber eben nur als eine Rechts- forderung, da eine Verantwortlichkeit nur dann praktische Bedeutung hat, wenn bestimmte Vergehen mit bestimmter Strafe bedroht, wenn ferner die Moda-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/90
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/90>, abgerufen am 01.10.2024.