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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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ein machtlos am Kreuze Gestorbener, der nicht das Mindeste gethan hatte, die
messianischen Hoffnungen des Volks zu erfüllen, ist nicht der Messias gewesen,
und seine Schüler, die solches behaupten, sind Lästerer, Mit dem ganzen alt-
testamentlichen Zorneseifer warf sich nun der junge feurige Pharisäer auf die
Verfolgung der neuen Sekte und wirkte sich vom großen Rath in Jerusalem
Vollmachtbriefe aus zur Aufspürung und Einlieferung der Christen von Jeru¬
salem bis Damaskus. Mitten auf diesem Verfvlgungszug kam jene Vision, jene
plötzliche Erleuchtung über ihn. die aus dem altgläubigen Pharisäer den hellst-
dcnkenden Jesusjünger machte.

Um diese Christusvision zu verstehen, müssen wir uns nicht an die sagen¬
hafte Erzählung der Apostelgeschichte, sondern an die authentischen Worte hal¬
ten, in welchen der Apostel über sie wie über seine Offenbarungen überhaupt
in seinen Briefen redet. Es ist bezeichnend, daß er seine Visionen selbst in Ver¬
bindung setzt mit einem körperlichen Leiden, das wir nach seinen eigenthümlichen
Ausdrücken von krampfartigen, der Epilepsie verwandten Zuständen verstehen
müssen. Auch sonst wissen wir, daß Paulus die schwächliche Constitution, daß
er ganz besonders die Gabe der ekstatischen Rede (Zungenreden, mie man es
damals nannte) besaß, und bei wichtigen Entschlüssen Pflegte er sich nicht auf
die Abwägung von Gründen, sondern auf innere Offenbarungen zu berufen,
welchen er folgte. Bei einem solchen Organismus ist uns die Vegreiflichkeit
jener Vision schon näher gerückt. Aber es fehlt auch nicht an Momenten einer
geistigen Vermittlung für jene immerhin am Ende mit plötzlicher Gewalt her¬
vorgebrochene Umwandlung. Wenn wir im Nömerbrief die Schilderung des
unseligen Zustandes unter dem Gesetz lesen, so läßt er uns damit hineinblicken
in seine eigene Seele, wie sie sich abmühte unter vergeblichem Ringen nach
Heiligung und Frieden. Wir haben ihn uns nicht zu denken als einen Buch¬
stabengläubigen, der abgeschlossen hat und mit sich fertig ist, sondern als in
einem heißen inneren Kampfe begriffen. Dürfen wir vielleicht hierauf auch die
maßlose Heftigkeit seines Angriffs schieben, jenes Schnauben mit Drohen und
Morden wider die Jünger des Herrn? Wollte er damit vielleicht den tobenden
Aufruhr seiner Seele übertäuben? Das stand ihm freilich felsenfest, daß Christen¬
thum und das Gesetz, Judenthum und ein gekreuzigter Messias nicht mit ein¬
ander bestehen können. Dieses Bewußtsein war ihm früher aufgegangen als
den Christen selbst. Keiner hat vor ihm diesen schneidenden Zwiespalt, diesen
unlösbaren Gegensatz entdeckt, dessen Erkenntniß die eigentliche Grundlage für
das geistige Bewußtsein des Apostels sowohl vor als nach seiner Bekehrung
bildet. Eben darum war er ein so fanatischer Eiferer für das Gesetz, dessen
Geltung er durch den Geist der neuen Sekte bedroht wußte. Aber eben darum
waren auch seine Folgerungen, nachdem er einmal von der einen Seite des Ge¬
gensatzes aus die andere übergetreten war, ganz andere als die der ersten Christen.


ein machtlos am Kreuze Gestorbener, der nicht das Mindeste gethan hatte, die
messianischen Hoffnungen des Volks zu erfüllen, ist nicht der Messias gewesen,
und seine Schüler, die solches behaupten, sind Lästerer, Mit dem ganzen alt-
testamentlichen Zorneseifer warf sich nun der junge feurige Pharisäer auf die
Verfolgung der neuen Sekte und wirkte sich vom großen Rath in Jerusalem
Vollmachtbriefe aus zur Aufspürung und Einlieferung der Christen von Jeru¬
salem bis Damaskus. Mitten auf diesem Verfvlgungszug kam jene Vision, jene
plötzliche Erleuchtung über ihn. die aus dem altgläubigen Pharisäer den hellst-
dcnkenden Jesusjünger machte.

Um diese Christusvision zu verstehen, müssen wir uns nicht an die sagen¬
hafte Erzählung der Apostelgeschichte, sondern an die authentischen Worte hal¬
ten, in welchen der Apostel über sie wie über seine Offenbarungen überhaupt
in seinen Briefen redet. Es ist bezeichnend, daß er seine Visionen selbst in Ver¬
bindung setzt mit einem körperlichen Leiden, das wir nach seinen eigenthümlichen
Ausdrücken von krampfartigen, der Epilepsie verwandten Zuständen verstehen
müssen. Auch sonst wissen wir, daß Paulus die schwächliche Constitution, daß
er ganz besonders die Gabe der ekstatischen Rede (Zungenreden, mie man es
damals nannte) besaß, und bei wichtigen Entschlüssen Pflegte er sich nicht auf
die Abwägung von Gründen, sondern auf innere Offenbarungen zu berufen,
welchen er folgte. Bei einem solchen Organismus ist uns die Vegreiflichkeit
jener Vision schon näher gerückt. Aber es fehlt auch nicht an Momenten einer
geistigen Vermittlung für jene immerhin am Ende mit plötzlicher Gewalt her¬
vorgebrochene Umwandlung. Wenn wir im Nömerbrief die Schilderung des
unseligen Zustandes unter dem Gesetz lesen, so läßt er uns damit hineinblicken
in seine eigene Seele, wie sie sich abmühte unter vergeblichem Ringen nach
Heiligung und Frieden. Wir haben ihn uns nicht zu denken als einen Buch¬
stabengläubigen, der abgeschlossen hat und mit sich fertig ist, sondern als in
einem heißen inneren Kampfe begriffen. Dürfen wir vielleicht hierauf auch die
maßlose Heftigkeit seines Angriffs schieben, jenes Schnauben mit Drohen und
Morden wider die Jünger des Herrn? Wollte er damit vielleicht den tobenden
Aufruhr seiner Seele übertäuben? Das stand ihm freilich felsenfest, daß Christen¬
thum und das Gesetz, Judenthum und ein gekreuzigter Messias nicht mit ein¬
ander bestehen können. Dieses Bewußtsein war ihm früher aufgegangen als
den Christen selbst. Keiner hat vor ihm diesen schneidenden Zwiespalt, diesen
unlösbaren Gegensatz entdeckt, dessen Erkenntniß die eigentliche Grundlage für
das geistige Bewußtsein des Apostels sowohl vor als nach seiner Bekehrung
bildet. Eben darum war er ein so fanatischer Eiferer für das Gesetz, dessen
Geltung er durch den Geist der neuen Sekte bedroht wußte. Aber eben darum
waren auch seine Folgerungen, nachdem er einmal von der einen Seite des Ge¬
gensatzes aus die andere übergetreten war, ganz andere als die der ersten Christen.


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[0072] ein machtlos am Kreuze Gestorbener, der nicht das Mindeste gethan hatte, die messianischen Hoffnungen des Volks zu erfüllen, ist nicht der Messias gewesen, und seine Schüler, die solches behaupten, sind Lästerer, Mit dem ganzen alt- testamentlichen Zorneseifer warf sich nun der junge feurige Pharisäer auf die Verfolgung der neuen Sekte und wirkte sich vom großen Rath in Jerusalem Vollmachtbriefe aus zur Aufspürung und Einlieferung der Christen von Jeru¬ salem bis Damaskus. Mitten auf diesem Verfvlgungszug kam jene Vision, jene plötzliche Erleuchtung über ihn. die aus dem altgläubigen Pharisäer den hellst- dcnkenden Jesusjünger machte. Um diese Christusvision zu verstehen, müssen wir uns nicht an die sagen¬ hafte Erzählung der Apostelgeschichte, sondern an die authentischen Worte hal¬ ten, in welchen der Apostel über sie wie über seine Offenbarungen überhaupt in seinen Briefen redet. Es ist bezeichnend, daß er seine Visionen selbst in Ver¬ bindung setzt mit einem körperlichen Leiden, das wir nach seinen eigenthümlichen Ausdrücken von krampfartigen, der Epilepsie verwandten Zuständen verstehen müssen. Auch sonst wissen wir, daß Paulus die schwächliche Constitution, daß er ganz besonders die Gabe der ekstatischen Rede (Zungenreden, mie man es damals nannte) besaß, und bei wichtigen Entschlüssen Pflegte er sich nicht auf die Abwägung von Gründen, sondern auf innere Offenbarungen zu berufen, welchen er folgte. Bei einem solchen Organismus ist uns die Vegreiflichkeit jener Vision schon näher gerückt. Aber es fehlt auch nicht an Momenten einer geistigen Vermittlung für jene immerhin am Ende mit plötzlicher Gewalt her¬ vorgebrochene Umwandlung. Wenn wir im Nömerbrief die Schilderung des unseligen Zustandes unter dem Gesetz lesen, so läßt er uns damit hineinblicken in seine eigene Seele, wie sie sich abmühte unter vergeblichem Ringen nach Heiligung und Frieden. Wir haben ihn uns nicht zu denken als einen Buch¬ stabengläubigen, der abgeschlossen hat und mit sich fertig ist, sondern als in einem heißen inneren Kampfe begriffen. Dürfen wir vielleicht hierauf auch die maßlose Heftigkeit seines Angriffs schieben, jenes Schnauben mit Drohen und Morden wider die Jünger des Herrn? Wollte er damit vielleicht den tobenden Aufruhr seiner Seele übertäuben? Das stand ihm freilich felsenfest, daß Christen¬ thum und das Gesetz, Judenthum und ein gekreuzigter Messias nicht mit ein¬ ander bestehen können. Dieses Bewußtsein war ihm früher aufgegangen als den Christen selbst. Keiner hat vor ihm diesen schneidenden Zwiespalt, diesen unlösbaren Gegensatz entdeckt, dessen Erkenntniß die eigentliche Grundlage für das geistige Bewußtsein des Apostels sowohl vor als nach seiner Bekehrung bildet. Eben darum war er ein so fanatischer Eiferer für das Gesetz, dessen Geltung er durch den Geist der neuen Sekte bedroht wußte. Aber eben darum waren auch seine Folgerungen, nachdem er einmal von der einen Seite des Ge¬ gensatzes aus die andere übergetreten war, ganz andere als die der ersten Christen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/72>, abgerufen am 03.07.2024.