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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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hatte, blieb der festen, dem Geiste Colberts folgenden Praxis gegenüber völlig
einflußlos. Freilich war es nicht der lebendige Wille und Ernst des großen
Staatsmannes, was sich unter den übrigens miserablen Verhältnissen reprodu-
cirte. Es war eben nur die Ueberlieferung des Systems der Handelspolitik,
was man mechanisch befolgte; aber gerade hierin zeigr sich die Macht des Genius,
daß er das Beispiel von Grundfäden und Richtungen giebt, die auch in der
steifsten und unlebendigsten Anwendung, ja selbst als bloße Schablone gemi߬
braucht, ihren beisamen Charakter nicht ganz verläugnen. Colberts System ist
das Bleibende im Vergänglichen der einzelnen zum Theil wieder gelähmten
Maßregeln seiner unvergleichlichen Verwaltung; Colberts System wird so lange
wichtig bleiben als es überhaupt noch Staaten von erheblich ungleicher indu¬
strieller Entwicklung giebt. Wie aber selbst eine indirecte Rücksichtnahme auf
dieses System denjenigen Staaten zieme, welche sich in der Richtung ans völlige
Handelsfreiheit bewegen und vorläufig nur noch mäßige Finanzzölle beibehalten,
werden wir andeuten nachdem wir das System selbst gekennzeichnet haben.

Die früheren italienischen Autoren verwenden den Namen Colberts geradezu
als Bezeichnung eines wirtschaftlichen Systems. Vielleicht wäre es auch besser,
wenn wir anstatt von einem Mercanlilsystem zu reden und demselben allerlei
Verkehrtheiten, die es nie begangen hat, anzudichten, lieber von Colbertismus
u. tgi. handelten. Es würde auch unter dieser Voraussetzung manchen Irr¬
thum zu berichtigen geben; allein die Praxis, die der theoretischen Analyse
Adam Smiths vorausging, würde denn doch nicht so vorsünbflulblicb erscheinen
wie sie in unsern Schulen durchschnittlich ausgegeben wird. Man kann getrost
zugeben, daß es vor Adam Smith keine eigentliche Wissenschaft nach dieser Rich¬
tung gegeben habe; aber man muß darauf bestehen, daß die Praxis zum Theil
von sehr gesunden Gedanken getragen wurde und bisweilen auch weniger ein¬
seitig war als manche Vorstellungen des großen Urhebers der Untersuchungen
über den Völkerreichthum. Der Grund, warum die Praxis so spät zur Wissen¬
schaft führt, ist leicht erkennbar. Die Jnstincte sind zunächst mächtiger und
scharfsichtiger als die Verstandesvorstellungen. Ein angemessenes praktisches Ver¬
halten ist nicht immer der Beweis klarer Einsichten und zutreffender Berech¬
nungen. Der Takt kann lange die Wissenschaft ersetzen, und eine die Bestre¬
bungen und Maximen zergliedernde und auf einfache Principien zurückführende
Einsicht kommt oft erst spät nach. staatsmännische Individuen anticipiren
durch ihren Jnstinct. der in diesem Falle Genie heißt, ganze Epochen und wer¬
den, ohne daß es ihnen einfiele, eigentliche Theorie machen zu wollen, unwill¬
kürlich zu praktischen Urhebern späterer Lehrgebäude, deren Umfang und Ein¬
zelnheiten sie noch kaum ahnen. Gerade aber dieser instinctive Zug einer aus
der unmittelbaren Anschauung der Verhältnisse und dem lebendigen Streben
des Augenblicks erwachsenden Praxis ist es auch, was sich sehr wohl mit be-


hatte, blieb der festen, dem Geiste Colberts folgenden Praxis gegenüber völlig
einflußlos. Freilich war es nicht der lebendige Wille und Ernst des großen
Staatsmannes, was sich unter den übrigens miserablen Verhältnissen reprodu-
cirte. Es war eben nur die Ueberlieferung des Systems der Handelspolitik,
was man mechanisch befolgte; aber gerade hierin zeigr sich die Macht des Genius,
daß er das Beispiel von Grundfäden und Richtungen giebt, die auch in der
steifsten und unlebendigsten Anwendung, ja selbst als bloße Schablone gemi߬
braucht, ihren beisamen Charakter nicht ganz verläugnen. Colberts System ist
das Bleibende im Vergänglichen der einzelnen zum Theil wieder gelähmten
Maßregeln seiner unvergleichlichen Verwaltung; Colberts System wird so lange
wichtig bleiben als es überhaupt noch Staaten von erheblich ungleicher indu¬
strieller Entwicklung giebt. Wie aber selbst eine indirecte Rücksichtnahme auf
dieses System denjenigen Staaten zieme, welche sich in der Richtung ans völlige
Handelsfreiheit bewegen und vorläufig nur noch mäßige Finanzzölle beibehalten,
werden wir andeuten nachdem wir das System selbst gekennzeichnet haben.

Die früheren italienischen Autoren verwenden den Namen Colberts geradezu
als Bezeichnung eines wirtschaftlichen Systems. Vielleicht wäre es auch besser,
wenn wir anstatt von einem Mercanlilsystem zu reden und demselben allerlei
Verkehrtheiten, die es nie begangen hat, anzudichten, lieber von Colbertismus
u. tgi. handelten. Es würde auch unter dieser Voraussetzung manchen Irr¬
thum zu berichtigen geben; allein die Praxis, die der theoretischen Analyse
Adam Smiths vorausging, würde denn doch nicht so vorsünbflulblicb erscheinen
wie sie in unsern Schulen durchschnittlich ausgegeben wird. Man kann getrost
zugeben, daß es vor Adam Smith keine eigentliche Wissenschaft nach dieser Rich¬
tung gegeben habe; aber man muß darauf bestehen, daß die Praxis zum Theil
von sehr gesunden Gedanken getragen wurde und bisweilen auch weniger ein¬
seitig war als manche Vorstellungen des großen Urhebers der Untersuchungen
über den Völkerreichthum. Der Grund, warum die Praxis so spät zur Wissen¬
schaft führt, ist leicht erkennbar. Die Jnstincte sind zunächst mächtiger und
scharfsichtiger als die Verstandesvorstellungen. Ein angemessenes praktisches Ver¬
halten ist nicht immer der Beweis klarer Einsichten und zutreffender Berech¬
nungen. Der Takt kann lange die Wissenschaft ersetzen, und eine die Bestre¬
bungen und Maximen zergliedernde und auf einfache Principien zurückführende
Einsicht kommt oft erst spät nach. staatsmännische Individuen anticipiren
durch ihren Jnstinct. der in diesem Falle Genie heißt, ganze Epochen und wer¬
den, ohne daß es ihnen einfiele, eigentliche Theorie machen zu wollen, unwill¬
kürlich zu praktischen Urhebern späterer Lehrgebäude, deren Umfang und Ein¬
zelnheiten sie noch kaum ahnen. Gerade aber dieser instinctive Zug einer aus
der unmittelbaren Anschauung der Verhältnisse und dem lebendigen Streben
des Augenblicks erwachsenden Praxis ist es auch, was sich sehr wohl mit be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/417>, abgerufen am 22.07.2024.