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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Handlung noch Ferien hat, Geist und Methode der positiven und strengen Gebiete
einzuführen. Nicht blos Mathematik. Mechanik. Physik. Chemie und Physio¬
logie, sondern auch die Wissenschaften der socialen Welt sollen der empirischen
und strengen Untersuchungsart anheimfallen. Diese Richtung ist bekanntlich
nicht gerade neu und noch viel weniger etwa veraltet; sie wurde schon vor
Jahrhunderten, wenn auch nur einseitig durch Bacon vorgezeichnet und hat sich
in manchen Versuchen der allerjüngsten Zeit (z. B. in Quetelets socialer Physik
und in bedeutenderen Arbeiten vom allerneuesten Datum) entschieden genug
bekundet. Allein die Art. wie Comte die Einführung einer strengeren Methode
versteht, ist ihm doch ganz eigenthümlich. Er knüpft die Wissenschaft des socialen
Lebens und des politischen Daseins unmittelbar an die Physiologie und macht
also mit der Beziehung der moralischen und der Naturgesetze, die schon von
Montesquieu und Beccaria untersucht wurde, nach Maßgabe der in ihm vorherr¬
schenden Anschauungen und Kenntnisse einigermaßen Ernst. Auf diese Weise
d. h. vermittelst seiner auf den Inhalt der wissenschaftlichen Erkenntniß gerich¬
teten Ueberlegungen gewinnt er denn auch die Hauptformel seines Systems,
welche er als eine Definition der Philosophie überhaupt oder wenigstens der heute
noch möglichen und berechtigten Philosophie ausgiebt. Ihm ist Philosophie so viel
als Betrachtung der Dinge und Borgänge nach Maßgabe einer Anzahl von
Kategorien der positiven wissenschaftlichen Erkenntniß. Die Gesichtspunkte der
Mathematik. Mechanik, Physik. Chemie, Astronomie und schließlich der Wissen¬
schaft des Organischen d. h. der Physiologie erschöpfen im Gebiete der Natur-
betrachtung alle nur irgend mögliche Erkenntniß, und zu diesem Wissen kann
nichts weiter hinzutreten, als eine ähnliche Zergliederung der Erscheinungen
der socialen und sittlichen Welt. Eine Metaphysik giebt es für das comtesche
System nicht. Diese "vermeinte" Wissenschaft wird in die Gesellschaft der Alchymie
und Astrologie verwiesen und ist für die "positive" Philosophie ein überwun¬
dener Standpunkt.

Ehe wir an diese Andeutungen, die in der That interessante, sowohl
philosophische als politische Grundanschauung des pariser Einsiedlers knüpfen,
erlauben wir uns einige aufklärende Hinweisungen auf die Person und ihre
Schicksale. Bei ernstlichen und unabhängigen Denkern sind auch die Aeußerlich-
keiten des Lebens für das Verständniß ihres Strebens von Werth. Auch
Comtes System wird man in seinen Vorzügen und Schwächen besser würdigen,
wenn man wenigstens etwas von der Laufbahn seines Urhebers weiß. Comte
ist ein Zögling jener polytechnischen Schule, deren Ruf zu den Zeiten Mvnges
und Lagranges ganz Europa erfüllte. War die Schöpfung des Vaters der be¬
schreibenden Geometrie auch in jener Epoche, in welcher sie auf Comte wirkte,
nicht mehr die alte glanzvolle Hochschule der höheren Technik, hatte sie auch
unter der Restauration und sogar schon unter Napoleon arge Verstümmelungen


Handlung noch Ferien hat, Geist und Methode der positiven und strengen Gebiete
einzuführen. Nicht blos Mathematik. Mechanik. Physik. Chemie und Physio¬
logie, sondern auch die Wissenschaften der socialen Welt sollen der empirischen
und strengen Untersuchungsart anheimfallen. Diese Richtung ist bekanntlich
nicht gerade neu und noch viel weniger etwa veraltet; sie wurde schon vor
Jahrhunderten, wenn auch nur einseitig durch Bacon vorgezeichnet und hat sich
in manchen Versuchen der allerjüngsten Zeit (z. B. in Quetelets socialer Physik
und in bedeutenderen Arbeiten vom allerneuesten Datum) entschieden genug
bekundet. Allein die Art. wie Comte die Einführung einer strengeren Methode
versteht, ist ihm doch ganz eigenthümlich. Er knüpft die Wissenschaft des socialen
Lebens und des politischen Daseins unmittelbar an die Physiologie und macht
also mit der Beziehung der moralischen und der Naturgesetze, die schon von
Montesquieu und Beccaria untersucht wurde, nach Maßgabe der in ihm vorherr¬
schenden Anschauungen und Kenntnisse einigermaßen Ernst. Auf diese Weise
d. h. vermittelst seiner auf den Inhalt der wissenschaftlichen Erkenntniß gerich¬
teten Ueberlegungen gewinnt er denn auch die Hauptformel seines Systems,
welche er als eine Definition der Philosophie überhaupt oder wenigstens der heute
noch möglichen und berechtigten Philosophie ausgiebt. Ihm ist Philosophie so viel
als Betrachtung der Dinge und Borgänge nach Maßgabe einer Anzahl von
Kategorien der positiven wissenschaftlichen Erkenntniß. Die Gesichtspunkte der
Mathematik. Mechanik, Physik. Chemie, Astronomie und schließlich der Wissen¬
schaft des Organischen d. h. der Physiologie erschöpfen im Gebiete der Natur-
betrachtung alle nur irgend mögliche Erkenntniß, und zu diesem Wissen kann
nichts weiter hinzutreten, als eine ähnliche Zergliederung der Erscheinungen
der socialen und sittlichen Welt. Eine Metaphysik giebt es für das comtesche
System nicht. Diese „vermeinte" Wissenschaft wird in die Gesellschaft der Alchymie
und Astrologie verwiesen und ist für die „positive" Philosophie ein überwun¬
dener Standpunkt.

Ehe wir an diese Andeutungen, die in der That interessante, sowohl
philosophische als politische Grundanschauung des pariser Einsiedlers knüpfen,
erlauben wir uns einige aufklärende Hinweisungen auf die Person und ihre
Schicksale. Bei ernstlichen und unabhängigen Denkern sind auch die Aeußerlich-
keiten des Lebens für das Verständniß ihres Strebens von Werth. Auch
Comtes System wird man in seinen Vorzügen und Schwächen besser würdigen,
wenn man wenigstens etwas von der Laufbahn seines Urhebers weiß. Comte
ist ein Zögling jener polytechnischen Schule, deren Ruf zu den Zeiten Mvnges
und Lagranges ganz Europa erfüllte. War die Schöpfung des Vaters der be¬
schreibenden Geometrie auch in jener Epoche, in welcher sie auf Comte wirkte,
nicht mehr die alte glanzvolle Hochschule der höheren Technik, hatte sie auch
unter der Restauration und sogar schon unter Napoleon arge Verstümmelungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/266>, abgerufen am 25.08.2024.