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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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bisweilen hinter dem Vorhang aussieht, der Vorhang selbst muß sich stattlich
aufnehmen. Häufig wird bei der Ausstattung der Töchter lediglich des Groß-
thuns wegen die Leistungsfähigkeit des Gehöfts überschritten. Borgt die Frau
vom Nachbar kleine Haushaltsbedürfnisse, so werden sie sorgfältig unter der
Schürze heimgetragen. Dem besten Haushalter kann es geschehen, daß einmal
das selbstgewonnene Getreide in der Wirthschaft nicht ausreicht. Der Wende
aber scheint es für eine Schande zu halten, wenn er Korn zulaufen muß, wie
sehr er auch im Stande sein mag. es mit guten harten Thalern sofort zu be¬
zahlen, und im Gefolge dieser falschen Scham kommt es bisweilen zu recht ko¬
mischen Geschichten. So stopfte ein Bauer, als ihm sein Korn ausgegangen,
einige Säcke mit Stroh aus. bedeckte sie mit einem Laken und fuhr zur Stadt,
indem er seinen Nachbarn sagte, er bringe Getreide zur Mühle. Beim Müller
angekommen, kaufte er Mehl und benutzte das Stroh bei der Heimkehr als
Sitzpolster. Einem andern mußte ein Arbeitsmann, den er sich zum Vertrau¬
ten gewählt, wiederholt aus der Stadt Mehl holen und ihm dies bei nächtlicher
Weile bringen. Er klopfte dann an ein gewisses Fenster und wurde unbemerkt
eingelassen; denn selbst die Hausgenossen des Bauern durften nicht wissen, daß
sein Kornboden leer war.

In kirchlichen Dingen ist der Wende ein Mann der Form, in Politischen
ein Anhänger der bestehenden Gewalt, ein pünktlicher Steuerzahler und ein ge¬
treuer Unterthan. Doch will der Verfasser unsrer Schrift bemerken, daß die
kleine Presse, die jetzt auch auf dem platten Lande zu wirken anfängt, und die
Reisen nach den Schwurgerichten auch hier größere Theilnahme an den Fragen, die
den Staat und das Vaterland betreffen, verbreitet haben. Kein Dorf, in dem jetzt
Nicht die Zeitung gelesen und politische Gespräche gehalten werden, und über
kurz oder lang wird man sich aus diesem Wege eine Art selbständige" Urtheils
verschafft haben.

Eine" unangenehmen Eindruck macht die Behandlung der Eltern von Sei¬
ten der Kinder, wenn jene alt und schwach, diese selbständig geworden sind.
Diese üble Behandlung ist im Wcndlande leider an der Tagesordnung. Fälle,
wie sie die Sage von den alten Wenden meldet, wo die Alten, wenn sie zur
Erwerbung ihres Lebensunterhalts unfähig geworden waren, lebendig begraben
wurden, können selbstverständlich nicht mehr vorkommen, wohl aber andere, die
nicht viel weniger empören. Hat der Vater einheirathen lassen und ist er durch
Abtretung des Hofes "Altcntheiler" geworden, so wird ihm in der Regel bei
jeder Gelegenheit fühlen gelassen, daß er eine Last ist und daß man ihn und
seine Frau je eher je lieber das Zeitliche segnen sähe. Auf alle Weise sucht
Man ihm zu verkürzen, was er sich zum Unterhalt ausbedungen hat. und un¬
gewöhnlich oft erlebt man bei den Gerichten, daß Alt und Jung sich in solchen
Eigcnthumsfragen processirend gegenüberstehen.


Grenzboten IV. 1864. 27

bisweilen hinter dem Vorhang aussieht, der Vorhang selbst muß sich stattlich
aufnehmen. Häufig wird bei der Ausstattung der Töchter lediglich des Groß-
thuns wegen die Leistungsfähigkeit des Gehöfts überschritten. Borgt die Frau
vom Nachbar kleine Haushaltsbedürfnisse, so werden sie sorgfältig unter der
Schürze heimgetragen. Dem besten Haushalter kann es geschehen, daß einmal
das selbstgewonnene Getreide in der Wirthschaft nicht ausreicht. Der Wende
aber scheint es für eine Schande zu halten, wenn er Korn zulaufen muß, wie
sehr er auch im Stande sein mag. es mit guten harten Thalern sofort zu be¬
zahlen, und im Gefolge dieser falschen Scham kommt es bisweilen zu recht ko¬
mischen Geschichten. So stopfte ein Bauer, als ihm sein Korn ausgegangen,
einige Säcke mit Stroh aus. bedeckte sie mit einem Laken und fuhr zur Stadt,
indem er seinen Nachbarn sagte, er bringe Getreide zur Mühle. Beim Müller
angekommen, kaufte er Mehl und benutzte das Stroh bei der Heimkehr als
Sitzpolster. Einem andern mußte ein Arbeitsmann, den er sich zum Vertrau¬
ten gewählt, wiederholt aus der Stadt Mehl holen und ihm dies bei nächtlicher
Weile bringen. Er klopfte dann an ein gewisses Fenster und wurde unbemerkt
eingelassen; denn selbst die Hausgenossen des Bauern durften nicht wissen, daß
sein Kornboden leer war.

In kirchlichen Dingen ist der Wende ein Mann der Form, in Politischen
ein Anhänger der bestehenden Gewalt, ein pünktlicher Steuerzahler und ein ge¬
treuer Unterthan. Doch will der Verfasser unsrer Schrift bemerken, daß die
kleine Presse, die jetzt auch auf dem platten Lande zu wirken anfängt, und die
Reisen nach den Schwurgerichten auch hier größere Theilnahme an den Fragen, die
den Staat und das Vaterland betreffen, verbreitet haben. Kein Dorf, in dem jetzt
Nicht die Zeitung gelesen und politische Gespräche gehalten werden, und über
kurz oder lang wird man sich aus diesem Wege eine Art selbständige» Urtheils
verschafft haben.

Eine» unangenehmen Eindruck macht die Behandlung der Eltern von Sei¬
ten der Kinder, wenn jene alt und schwach, diese selbständig geworden sind.
Diese üble Behandlung ist im Wcndlande leider an der Tagesordnung. Fälle,
wie sie die Sage von den alten Wenden meldet, wo die Alten, wenn sie zur
Erwerbung ihres Lebensunterhalts unfähig geworden waren, lebendig begraben
wurden, können selbstverständlich nicht mehr vorkommen, wohl aber andere, die
nicht viel weniger empören. Hat der Vater einheirathen lassen und ist er durch
Abtretung des Hofes „Altcntheiler" geworden, so wird ihm in der Regel bei
jeder Gelegenheit fühlen gelassen, daß er eine Last ist und daß man ihn und
seine Frau je eher je lieber das Zeitliche segnen sähe. Auf alle Weise sucht
Man ihm zu verkürzen, was er sich zum Unterhalt ausbedungen hat. und un¬
gewöhnlich oft erlebt man bei den Gerichten, daß Alt und Jung sich in solchen
Eigcnthumsfragen processirend gegenüberstehen.


Grenzboten IV. 1864. 27
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[0213] bisweilen hinter dem Vorhang aussieht, der Vorhang selbst muß sich stattlich aufnehmen. Häufig wird bei der Ausstattung der Töchter lediglich des Groß- thuns wegen die Leistungsfähigkeit des Gehöfts überschritten. Borgt die Frau vom Nachbar kleine Haushaltsbedürfnisse, so werden sie sorgfältig unter der Schürze heimgetragen. Dem besten Haushalter kann es geschehen, daß einmal das selbstgewonnene Getreide in der Wirthschaft nicht ausreicht. Der Wende aber scheint es für eine Schande zu halten, wenn er Korn zulaufen muß, wie sehr er auch im Stande sein mag. es mit guten harten Thalern sofort zu be¬ zahlen, und im Gefolge dieser falschen Scham kommt es bisweilen zu recht ko¬ mischen Geschichten. So stopfte ein Bauer, als ihm sein Korn ausgegangen, einige Säcke mit Stroh aus. bedeckte sie mit einem Laken und fuhr zur Stadt, indem er seinen Nachbarn sagte, er bringe Getreide zur Mühle. Beim Müller angekommen, kaufte er Mehl und benutzte das Stroh bei der Heimkehr als Sitzpolster. Einem andern mußte ein Arbeitsmann, den er sich zum Vertrau¬ ten gewählt, wiederholt aus der Stadt Mehl holen und ihm dies bei nächtlicher Weile bringen. Er klopfte dann an ein gewisses Fenster und wurde unbemerkt eingelassen; denn selbst die Hausgenossen des Bauern durften nicht wissen, daß sein Kornboden leer war. In kirchlichen Dingen ist der Wende ein Mann der Form, in Politischen ein Anhänger der bestehenden Gewalt, ein pünktlicher Steuerzahler und ein ge¬ treuer Unterthan. Doch will der Verfasser unsrer Schrift bemerken, daß die kleine Presse, die jetzt auch auf dem platten Lande zu wirken anfängt, und die Reisen nach den Schwurgerichten auch hier größere Theilnahme an den Fragen, die den Staat und das Vaterland betreffen, verbreitet haben. Kein Dorf, in dem jetzt Nicht die Zeitung gelesen und politische Gespräche gehalten werden, und über kurz oder lang wird man sich aus diesem Wege eine Art selbständige» Urtheils verschafft haben. Eine» unangenehmen Eindruck macht die Behandlung der Eltern von Sei¬ ten der Kinder, wenn jene alt und schwach, diese selbständig geworden sind. Diese üble Behandlung ist im Wcndlande leider an der Tagesordnung. Fälle, wie sie die Sage von den alten Wenden meldet, wo die Alten, wenn sie zur Erwerbung ihres Lebensunterhalts unfähig geworden waren, lebendig begraben wurden, können selbstverständlich nicht mehr vorkommen, wohl aber andere, die nicht viel weniger empören. Hat der Vater einheirathen lassen und ist er durch Abtretung des Hofes „Altcntheiler" geworden, so wird ihm in der Regel bei jeder Gelegenheit fühlen gelassen, daß er eine Last ist und daß man ihn und seine Frau je eher je lieber das Zeitliche segnen sähe. Auf alle Weise sucht Man ihm zu verkürzen, was er sich zum Unterhalt ausbedungen hat. und un¬ gewöhnlich oft erlebt man bei den Gerichten, daß Alt und Jung sich in solchen Eigcnthumsfragen processirend gegenüberstehen. Grenzboten IV. 1864. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/213>, abgerufen am 01.10.2024.