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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Flachs und Wolle, das man sich vom Färber in der Stadt färben und bedrücken
läßt. Doch haben die schwarz und rothen oder grün und schwarz gestreiften
Jacken der Männer jetzt vielfach Jacken und Röcken von dunkelblauem Drei¬
kamm weichen müssen. Die Festtracht ist bei jenen gegenwärtig dieselbe wie
sie fast überall in Nord- und Mitteldeutschland den Sonntagsbauer bezeichnet:
langer dunkler Tuchrock. dergleichen Hosen, französischer Cylinderhut von alt¬
modischer, oben ausgeschweifter Form. Auffallend ist, daß man bei der Arbeit,
selbst beim Reiten im Amte Gartow weiße Leinwandschürzen trägt. Die Frauen
kleiden sich so bunt als möglich mit Ausnahme des großen dunkeln Tuch¬
mantels, den sie im Winter überwerfen. Wenn sie sich putze", legen sie
Röcke und Mieder vom feinsten Tuch, in allen Farben spielende seidene Schärpen
und ein seidenes Brusttuch an, welches auf dem Rücken in zahllose Falten ge¬
heftet ist, und üoer welches um den Hals die "Fraise", ein drei oder vier¬
facher Tüllkragen, gelegt wird. Den Kopf bedeckt entweder die "Timpmütze"
oder die "goldne Mütze". Erstere ist von rothem, letztere von golddurchwirktem
Stoff, beide sind cvrnetförmig, im Loden mir Goldstickerei und unechten Steinen
besetzt und hinten mit riesigen Schleifen geschmückt, die bis auf den Rücken
herabfallen.

Die Wenden stehen in dem Ruf. einen sehr gesunden Appetit und eine wunder¬
bare Verdauungskraft zu besitzen. Man hat Bilder, wie ihrer zwei einen
Schinken, ein Hausbackenbrot von der Größe eines mittleren Wagenrades auf
dem Tische vor sich und ein Faß Bier auf dem Schooße haben. Unsre Quelle
nennt das Uebertreibung, vermag aber doch Fälle nicht in Abrede zu stellen,
wo ein Wende eine ganze Gans, einen Kalbsbraten oder fünf Pfund Sülze
in Einem Niedersitzen verspeiste. Im Uevrigen war früher Braunkohl das Leib¬
gericht, und es heißt, daß er, Sonntags frisch gekocht, die ganze Woche als
Frühstück diente. Jetzt sind die Kartoffeln an seine Steile getreten, und unter
den Getränken erfreut sich vorzüglich der Kaffee großer Verehrung. Daneben wirb
viel Branntwein, doch nicht mehr so viel als in der guten alten Zeit getrunken,
wo die Bauern von Bülitz ihr Gehölz "Grummode" durch die Kehle jagten.
Desgleichen spielt das süßliche, dicke, unvollkommen gegohrne Braunbier, wel¬
ches die Städte des Wendlandes brauen, besonders bei Hochzeiten und Kind¬
taufen eine wichtige Rolle.

Die wendische Sprache wurde hier bis in das vorige Jahrhundert hinein
gesprochen, und die Zeit liegt nicht so fern, wo in ihr noch gepredigt wurde,
ja einzelne Bauern sollen sie noch zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts haben
sprechen können. Doch war dies kein reines Wendisch mehr, sondern ein Ge¬
misch verdorbener slavischer Worte mit Deutschem. Unsere Quelle giebt mehre
Proben davon, von denen wir die eine, ein um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts aufgeschriebenes wendisches Vaterunser hier mittheilen. Dasselbe lautet:
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Flachs und Wolle, das man sich vom Färber in der Stadt färben und bedrücken
läßt. Doch haben die schwarz und rothen oder grün und schwarz gestreiften
Jacken der Männer jetzt vielfach Jacken und Röcken von dunkelblauem Drei¬
kamm weichen müssen. Die Festtracht ist bei jenen gegenwärtig dieselbe wie
sie fast überall in Nord- und Mitteldeutschland den Sonntagsbauer bezeichnet:
langer dunkler Tuchrock. dergleichen Hosen, französischer Cylinderhut von alt¬
modischer, oben ausgeschweifter Form. Auffallend ist, daß man bei der Arbeit,
selbst beim Reiten im Amte Gartow weiße Leinwandschürzen trägt. Die Frauen
kleiden sich so bunt als möglich mit Ausnahme des großen dunkeln Tuch¬
mantels, den sie im Winter überwerfen. Wenn sie sich putze», legen sie
Röcke und Mieder vom feinsten Tuch, in allen Farben spielende seidene Schärpen
und ein seidenes Brusttuch an, welches auf dem Rücken in zahllose Falten ge¬
heftet ist, und üoer welches um den Hals die „Fraise", ein drei oder vier¬
facher Tüllkragen, gelegt wird. Den Kopf bedeckt entweder die „Timpmütze"
oder die „goldne Mütze". Erstere ist von rothem, letztere von golddurchwirktem
Stoff, beide sind cvrnetförmig, im Loden mir Goldstickerei und unechten Steinen
besetzt und hinten mit riesigen Schleifen geschmückt, die bis auf den Rücken
herabfallen.

Die Wenden stehen in dem Ruf. einen sehr gesunden Appetit und eine wunder¬
bare Verdauungskraft zu besitzen. Man hat Bilder, wie ihrer zwei einen
Schinken, ein Hausbackenbrot von der Größe eines mittleren Wagenrades auf
dem Tische vor sich und ein Faß Bier auf dem Schooße haben. Unsre Quelle
nennt das Uebertreibung, vermag aber doch Fälle nicht in Abrede zu stellen,
wo ein Wende eine ganze Gans, einen Kalbsbraten oder fünf Pfund Sülze
in Einem Niedersitzen verspeiste. Im Uevrigen war früher Braunkohl das Leib¬
gericht, und es heißt, daß er, Sonntags frisch gekocht, die ganze Woche als
Frühstück diente. Jetzt sind die Kartoffeln an seine Steile getreten, und unter
den Getränken erfreut sich vorzüglich der Kaffee großer Verehrung. Daneben wirb
viel Branntwein, doch nicht mehr so viel als in der guten alten Zeit getrunken,
wo die Bauern von Bülitz ihr Gehölz „Grummode" durch die Kehle jagten.
Desgleichen spielt das süßliche, dicke, unvollkommen gegohrne Braunbier, wel¬
ches die Städte des Wendlandes brauen, besonders bei Hochzeiten und Kind¬
taufen eine wichtige Rolle.

Die wendische Sprache wurde hier bis in das vorige Jahrhundert hinein
gesprochen, und die Zeit liegt nicht so fern, wo in ihr noch gepredigt wurde,
ja einzelne Bauern sollen sie noch zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts haben
sprechen können. Doch war dies kein reines Wendisch mehr, sondern ein Ge¬
misch verdorbener slavischer Worte mit Deutschem. Unsere Quelle giebt mehre
Proben davon, von denen wir die eine, ein um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts aufgeschriebenes wendisches Vaterunser hier mittheilen. Dasselbe lautet:
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[0207] Flachs und Wolle, das man sich vom Färber in der Stadt färben und bedrücken läßt. Doch haben die schwarz und rothen oder grün und schwarz gestreiften Jacken der Männer jetzt vielfach Jacken und Röcken von dunkelblauem Drei¬ kamm weichen müssen. Die Festtracht ist bei jenen gegenwärtig dieselbe wie sie fast überall in Nord- und Mitteldeutschland den Sonntagsbauer bezeichnet: langer dunkler Tuchrock. dergleichen Hosen, französischer Cylinderhut von alt¬ modischer, oben ausgeschweifter Form. Auffallend ist, daß man bei der Arbeit, selbst beim Reiten im Amte Gartow weiße Leinwandschürzen trägt. Die Frauen kleiden sich so bunt als möglich mit Ausnahme des großen dunkeln Tuch¬ mantels, den sie im Winter überwerfen. Wenn sie sich putze», legen sie Röcke und Mieder vom feinsten Tuch, in allen Farben spielende seidene Schärpen und ein seidenes Brusttuch an, welches auf dem Rücken in zahllose Falten ge¬ heftet ist, und üoer welches um den Hals die „Fraise", ein drei oder vier¬ facher Tüllkragen, gelegt wird. Den Kopf bedeckt entweder die „Timpmütze" oder die „goldne Mütze". Erstere ist von rothem, letztere von golddurchwirktem Stoff, beide sind cvrnetförmig, im Loden mir Goldstickerei und unechten Steinen besetzt und hinten mit riesigen Schleifen geschmückt, die bis auf den Rücken herabfallen. Die Wenden stehen in dem Ruf. einen sehr gesunden Appetit und eine wunder¬ bare Verdauungskraft zu besitzen. Man hat Bilder, wie ihrer zwei einen Schinken, ein Hausbackenbrot von der Größe eines mittleren Wagenrades auf dem Tische vor sich und ein Faß Bier auf dem Schooße haben. Unsre Quelle nennt das Uebertreibung, vermag aber doch Fälle nicht in Abrede zu stellen, wo ein Wende eine ganze Gans, einen Kalbsbraten oder fünf Pfund Sülze in Einem Niedersitzen verspeiste. Im Uevrigen war früher Braunkohl das Leib¬ gericht, und es heißt, daß er, Sonntags frisch gekocht, die ganze Woche als Frühstück diente. Jetzt sind die Kartoffeln an seine Steile getreten, und unter den Getränken erfreut sich vorzüglich der Kaffee großer Verehrung. Daneben wirb viel Branntwein, doch nicht mehr so viel als in der guten alten Zeit getrunken, wo die Bauern von Bülitz ihr Gehölz „Grummode" durch die Kehle jagten. Desgleichen spielt das süßliche, dicke, unvollkommen gegohrne Braunbier, wel¬ ches die Städte des Wendlandes brauen, besonders bei Hochzeiten und Kind¬ taufen eine wichtige Rolle. Die wendische Sprache wurde hier bis in das vorige Jahrhundert hinein gesprochen, und die Zeit liegt nicht so fern, wo in ihr noch gepredigt wurde, ja einzelne Bauern sollen sie noch zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts haben sprechen können. Doch war dies kein reines Wendisch mehr, sondern ein Ge¬ misch verdorbener slavischer Worte mit Deutschem. Unsere Quelle giebt mehre Proben davon, von denen wir die eine, ein um die Mitte des vorigen Jahr¬ hunderts aufgeschriebenes wendisches Vaterunser hier mittheilen. Dasselbe lautet: * 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/207>, abgerufen am 01.10.2024.