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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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von dem Beruf der Staatsgewalt, positiv fördernd für die unteren Classen
einzutreten", und, fügen wir hinzu: noch schwerer wird es ihr, die Berechtigung
einer rivalisirenden Classe neidlos anzuerkennen. Man hatte aus tendenziösen
Rücksichten das Städtewesen ungebührlich verfallen lassen; diese schwere Schuld
strafte sich dadurch, daß, als man sich endlich zu einer Reform entschließen
mußte, die Elemente zu einem wahren Selfgovernment fehlten. Der stetigen
Beschäftigung mit öffentlichen Dingen entwöhnt hatten die städtischen Classen
ihre ganze Kraft und Zeit der Pflege persönlicher Interessen gewidmet. Als
sie nun endlich in den Besitz der lange verkümmerten politischen Rechte ein¬
gesetzt wurden, war es da zu verwundern, daß sie die gewissermaßen natürlichen
Gesetze, nach denen das ungeheure und verwickelte Getriebe gewerblicher, in¬
dustrieller und merkantiler Interessen sich ordnet und regiert, auch auf den
Staat übertragen wollten? Daß der Staat ihm nur als ein Institut zur Ver¬
wirklichung volkswirthschaftlicher Grundsätze erschien und daß selbst die politische
Freiheit für sie nur noch insofern Bedeutung halte als sie dazu beitragen konnte,
die Interessen der erwerbenden Thätigkeit zu fördern?

Daß diese Grundsätze bereits über den Kreis der städtischen Verwaltungen
hinaus sich verbreitet haben, daß sie in die gesammte neuere Gesetzgebung ein¬
gedrungen sind und selbst die Grafschaftsverfassnng durchbrochen haben, -- und
zwar gerade an den Stellen, welche die regierende Classe sei es aus Nach¬
lässigkeit sei es aus Tendenz hat verfallen lassen, -- das hat wohl am meisten
dazu beigetragen, in England selbst Bedenken über die eingeschlagenen Wege
zu erwecken. Es läßt sich der Gedanke nicht länger abweisen, daß eine Herr¬
schaft des Unterhauses mit bureaukratrscher Centralisation nicht ein Schutz, son¬
dern ein Grab der Freiheit, daß sie nur eine Vorstufe des Absolutismus sein
würde. Auf welche Weise dem Umsichgreifen des Uebels Einhalt gethan werden
kann läßt sich im Einzelnen noch schwer ermessen; so viel ficht man aber im
Allgemeinen leicht ein, daß es vor allem darauf ankommt, die städtischen
höheren Classen dadurch der Gentry wahrhaft ebenbürtig zu machen, daß man
sie zu derselben persönlichen Amtsthätigkeit zwingt wie sie die Landgcntry seit
Jahrhunderten auszuüben gewohnt ist. Dadurch erst wird die Gentry die Aus¬
dehnung erhalten, die den gegenwärtigen socialen Verhältnissen entspricht und
nur unter dieser Bedingung wird sie im Stande sein, den socialen Interessen
gerecht zu werden und sie zugleich zur Unterordnung unter das höchste Interesse,
das des Staates, zu zwingen.

Ob es zur Erreichung dieses Zieles einer Verstärkung der königlichen Ini¬
tiative durch Wiederbelebung des Staatsrathes, der rechtlich noch immer die höchste
Behörde des Reiches ist, bedürfen wird, oder ob die Parlamentarischen Parteien
die Kraft haben, an sich selbst den nothwendigen Negcnerativnsproccß zu voll¬
ziehen, das wird wohl eine nicht allzu ferne Zukunft lehren. Gneist schließt


Grenzboten IV. 1864. 24

von dem Beruf der Staatsgewalt, positiv fördernd für die unteren Classen
einzutreten", und, fügen wir hinzu: noch schwerer wird es ihr, die Berechtigung
einer rivalisirenden Classe neidlos anzuerkennen. Man hatte aus tendenziösen
Rücksichten das Städtewesen ungebührlich verfallen lassen; diese schwere Schuld
strafte sich dadurch, daß, als man sich endlich zu einer Reform entschließen
mußte, die Elemente zu einem wahren Selfgovernment fehlten. Der stetigen
Beschäftigung mit öffentlichen Dingen entwöhnt hatten die städtischen Classen
ihre ganze Kraft und Zeit der Pflege persönlicher Interessen gewidmet. Als
sie nun endlich in den Besitz der lange verkümmerten politischen Rechte ein¬
gesetzt wurden, war es da zu verwundern, daß sie die gewissermaßen natürlichen
Gesetze, nach denen das ungeheure und verwickelte Getriebe gewerblicher, in¬
dustrieller und merkantiler Interessen sich ordnet und regiert, auch auf den
Staat übertragen wollten? Daß der Staat ihm nur als ein Institut zur Ver¬
wirklichung volkswirthschaftlicher Grundsätze erschien und daß selbst die politische
Freiheit für sie nur noch insofern Bedeutung halte als sie dazu beitragen konnte,
die Interessen der erwerbenden Thätigkeit zu fördern?

Daß diese Grundsätze bereits über den Kreis der städtischen Verwaltungen
hinaus sich verbreitet haben, daß sie in die gesammte neuere Gesetzgebung ein¬
gedrungen sind und selbst die Grafschaftsverfassnng durchbrochen haben, — und
zwar gerade an den Stellen, welche die regierende Classe sei es aus Nach¬
lässigkeit sei es aus Tendenz hat verfallen lassen, — das hat wohl am meisten
dazu beigetragen, in England selbst Bedenken über die eingeschlagenen Wege
zu erwecken. Es läßt sich der Gedanke nicht länger abweisen, daß eine Herr¬
schaft des Unterhauses mit bureaukratrscher Centralisation nicht ein Schutz, son¬
dern ein Grab der Freiheit, daß sie nur eine Vorstufe des Absolutismus sein
würde. Auf welche Weise dem Umsichgreifen des Uebels Einhalt gethan werden
kann läßt sich im Einzelnen noch schwer ermessen; so viel ficht man aber im
Allgemeinen leicht ein, daß es vor allem darauf ankommt, die städtischen
höheren Classen dadurch der Gentry wahrhaft ebenbürtig zu machen, daß man
sie zu derselben persönlichen Amtsthätigkeit zwingt wie sie die Landgcntry seit
Jahrhunderten auszuüben gewohnt ist. Dadurch erst wird die Gentry die Aus¬
dehnung erhalten, die den gegenwärtigen socialen Verhältnissen entspricht und
nur unter dieser Bedingung wird sie im Stande sein, den socialen Interessen
gerecht zu werden und sie zugleich zur Unterordnung unter das höchste Interesse,
das des Staates, zu zwingen.

Ob es zur Erreichung dieses Zieles einer Verstärkung der königlichen Ini¬
tiative durch Wiederbelebung des Staatsrathes, der rechtlich noch immer die höchste
Behörde des Reiches ist, bedürfen wird, oder ob die Parlamentarischen Parteien
die Kraft haben, an sich selbst den nothwendigen Negcnerativnsproccß zu voll¬
ziehen, das wird wohl eine nicht allzu ferne Zukunft lehren. Gneist schließt


Grenzboten IV. 1864. 24
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[0189] von dem Beruf der Staatsgewalt, positiv fördernd für die unteren Classen einzutreten", und, fügen wir hinzu: noch schwerer wird es ihr, die Berechtigung einer rivalisirenden Classe neidlos anzuerkennen. Man hatte aus tendenziösen Rücksichten das Städtewesen ungebührlich verfallen lassen; diese schwere Schuld strafte sich dadurch, daß, als man sich endlich zu einer Reform entschließen mußte, die Elemente zu einem wahren Selfgovernment fehlten. Der stetigen Beschäftigung mit öffentlichen Dingen entwöhnt hatten die städtischen Classen ihre ganze Kraft und Zeit der Pflege persönlicher Interessen gewidmet. Als sie nun endlich in den Besitz der lange verkümmerten politischen Rechte ein¬ gesetzt wurden, war es da zu verwundern, daß sie die gewissermaßen natürlichen Gesetze, nach denen das ungeheure und verwickelte Getriebe gewerblicher, in¬ dustrieller und merkantiler Interessen sich ordnet und regiert, auch auf den Staat übertragen wollten? Daß der Staat ihm nur als ein Institut zur Ver¬ wirklichung volkswirthschaftlicher Grundsätze erschien und daß selbst die politische Freiheit für sie nur noch insofern Bedeutung halte als sie dazu beitragen konnte, die Interessen der erwerbenden Thätigkeit zu fördern? Daß diese Grundsätze bereits über den Kreis der städtischen Verwaltungen hinaus sich verbreitet haben, daß sie in die gesammte neuere Gesetzgebung ein¬ gedrungen sind und selbst die Grafschaftsverfassnng durchbrochen haben, — und zwar gerade an den Stellen, welche die regierende Classe sei es aus Nach¬ lässigkeit sei es aus Tendenz hat verfallen lassen, — das hat wohl am meisten dazu beigetragen, in England selbst Bedenken über die eingeschlagenen Wege zu erwecken. Es läßt sich der Gedanke nicht länger abweisen, daß eine Herr¬ schaft des Unterhauses mit bureaukratrscher Centralisation nicht ein Schutz, son¬ dern ein Grab der Freiheit, daß sie nur eine Vorstufe des Absolutismus sein würde. Auf welche Weise dem Umsichgreifen des Uebels Einhalt gethan werden kann läßt sich im Einzelnen noch schwer ermessen; so viel ficht man aber im Allgemeinen leicht ein, daß es vor allem darauf ankommt, die städtischen höheren Classen dadurch der Gentry wahrhaft ebenbürtig zu machen, daß man sie zu derselben persönlichen Amtsthätigkeit zwingt wie sie die Landgcntry seit Jahrhunderten auszuüben gewohnt ist. Dadurch erst wird die Gentry die Aus¬ dehnung erhalten, die den gegenwärtigen socialen Verhältnissen entspricht und nur unter dieser Bedingung wird sie im Stande sein, den socialen Interessen gerecht zu werden und sie zugleich zur Unterordnung unter das höchste Interesse, das des Staates, zu zwingen. Ob es zur Erreichung dieses Zieles einer Verstärkung der königlichen Ini¬ tiative durch Wiederbelebung des Staatsrathes, der rechtlich noch immer die höchste Behörde des Reiches ist, bedürfen wird, oder ob die Parlamentarischen Parteien die Kraft haben, an sich selbst den nothwendigen Negcnerativnsproccß zu voll¬ ziehen, das wird wohl eine nicht allzu ferne Zukunft lehren. Gneist schließt Grenzboten IV. 1864. 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/189>, abgerufen am 01.10.2024.