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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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staatsbildende Thätigkeit der Fürstengewalt zu finden. Wilhelm und seine Nach¬
folger erkannten das feudale System, welches sie aus der Normandie mitgebracht
hatten, und auf dem ja in der That die mittelalterliche Gesellschaft beruhte,
nicht nur an, sondern entwickelten es auch bis zu seinen äußersten Consequenzen.
Aber -- und darin liegt ihre unvergängliche historische Bedeutung -- sie wußten
es zu verhindern, daß das gesellschaftliche Institut des Feudalismus das Staats-
Wesennach seinen Bedürfnissen ordnete d. h. den Staat auflöste; sie zwangen viel¬
mehr mit seltener Kraft und Konsequenz das System, sich dem Staate zu unter¬
werfen, und alle die Kraft, die es wie jede lebendige, dem jedesmaligen Cultur¬
zustande entsprechende Gruppirung der Gesellschaft in reicher Fülle aus sich ent¬
faltete, dem Staate dienstbar zu machen.

Das Festhalten dieses Grundsatzes für alle folgenden Zeiten hat dem
Staate die Kraft verliehen, seine Grundlagen, nicht unberührt, aber unerschüttert
von dem Wechsel der socialen Ordnungen zu bewahren und weiter zu entwickeln,
und gerade durch die vollste Anerkennung jeder Veränderung der allgemeinen
Culturverhältnisse stets die Gesammtkraft der Nation seinem Gefüge zu leben¬
diger Bethätigung einzuordnen. Diese stetige Entwickelung, die man oft als
Naturwüchsigkeit preisen hört, ist im Gegentheil das Resultat einer unausge¬
setzten ebenso kräftigen wie bewußten und planmäßigen Arbeit, die der Nation
zur Gewohnheit geworden ist. Das ist der wunderbare politische Takt, das
Resultat einer langen politischen Erziehung, jener feine Takt, der die kleinste
Strömung in der Harmonie des Staatsganzen empfindet, und fast immer den
rechten Moment erfaßt hat, um den vollen Einklang wieder herzustellen; der
zu der Hoffnung berechtigt, es werde auch die in Folge der gewaltigen indu¬
striellen Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts eingetretene Krisis über¬
wunden werden und mit dem Triumphe des Staates über die auflösenden
Tendenzen der Gesellschaft endigen.

Der wesentlichste Anspruch, der an den mittelalterlichen Staat gestellt wer¬
den mußte, war die Wehrfähigkeit, woraus von selbst folgt, daß die Wehr¬
verfassung den Mittelpunkt der gesammten staatlichen Einrichtungen bildete.
Die Kriegspflicht war aber unmittelbar abhängig von den Besijzverhältnissen,
die durchaus nach den Grundsätzen des Lehnswesens geregelt waren. Wilhelm
War durch die Eroberung Herr des gesammten Bodens geworden, von dem er
natürlich nur einen Theil als unmittelbare Domäne zurückbehielt. Die Haupt-
Masse vertheilte er an eine Unzahl geistlicher und weltlicher normannischer Herren,
die für ihren Antheil ihm unmittelbar zu Lehnsdienst verpflichtet waren, twnvn-
t"8 in egMo.) Diese unmittelbaren Vasallen belehnten ihrerseits wieder eine
Anzahl Untervasallen, theils Normannen, theils auch Sachsen, die sich für den
Theil ihres alten Besitzes, den man ihnen gelassen hatte, natürlich allen von
der neuen Staatsordnung auferlegten Lasten unterwerfen mußten. Den zahl-


staatsbildende Thätigkeit der Fürstengewalt zu finden. Wilhelm und seine Nach¬
folger erkannten das feudale System, welches sie aus der Normandie mitgebracht
hatten, und auf dem ja in der That die mittelalterliche Gesellschaft beruhte,
nicht nur an, sondern entwickelten es auch bis zu seinen äußersten Consequenzen.
Aber — und darin liegt ihre unvergängliche historische Bedeutung — sie wußten
es zu verhindern, daß das gesellschaftliche Institut des Feudalismus das Staats-
Wesennach seinen Bedürfnissen ordnete d. h. den Staat auflöste; sie zwangen viel¬
mehr mit seltener Kraft und Konsequenz das System, sich dem Staate zu unter¬
werfen, und alle die Kraft, die es wie jede lebendige, dem jedesmaligen Cultur¬
zustande entsprechende Gruppirung der Gesellschaft in reicher Fülle aus sich ent¬
faltete, dem Staate dienstbar zu machen.

Das Festhalten dieses Grundsatzes für alle folgenden Zeiten hat dem
Staate die Kraft verliehen, seine Grundlagen, nicht unberührt, aber unerschüttert
von dem Wechsel der socialen Ordnungen zu bewahren und weiter zu entwickeln,
und gerade durch die vollste Anerkennung jeder Veränderung der allgemeinen
Culturverhältnisse stets die Gesammtkraft der Nation seinem Gefüge zu leben¬
diger Bethätigung einzuordnen. Diese stetige Entwickelung, die man oft als
Naturwüchsigkeit preisen hört, ist im Gegentheil das Resultat einer unausge¬
setzten ebenso kräftigen wie bewußten und planmäßigen Arbeit, die der Nation
zur Gewohnheit geworden ist. Das ist der wunderbare politische Takt, das
Resultat einer langen politischen Erziehung, jener feine Takt, der die kleinste
Strömung in der Harmonie des Staatsganzen empfindet, und fast immer den
rechten Moment erfaßt hat, um den vollen Einklang wieder herzustellen; der
zu der Hoffnung berechtigt, es werde auch die in Folge der gewaltigen indu¬
striellen Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts eingetretene Krisis über¬
wunden werden und mit dem Triumphe des Staates über die auflösenden
Tendenzen der Gesellschaft endigen.

Der wesentlichste Anspruch, der an den mittelalterlichen Staat gestellt wer¬
den mußte, war die Wehrfähigkeit, woraus von selbst folgt, daß die Wehr¬
verfassung den Mittelpunkt der gesammten staatlichen Einrichtungen bildete.
Die Kriegspflicht war aber unmittelbar abhängig von den Besijzverhältnissen,
die durchaus nach den Grundsätzen des Lehnswesens geregelt waren. Wilhelm
War durch die Eroberung Herr des gesammten Bodens geworden, von dem er
natürlich nur einen Theil als unmittelbare Domäne zurückbehielt. Die Haupt-
Masse vertheilte er an eine Unzahl geistlicher und weltlicher normannischer Herren,
die für ihren Antheil ihm unmittelbar zu Lehnsdienst verpflichtet waren, twnvn-
t«8 in egMo.) Diese unmittelbaren Vasallen belehnten ihrerseits wieder eine
Anzahl Untervasallen, theils Normannen, theils auch Sachsen, die sich für den
Theil ihres alten Besitzes, den man ihnen gelassen hatte, natürlich allen von
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[0129] staatsbildende Thätigkeit der Fürstengewalt zu finden. Wilhelm und seine Nach¬ folger erkannten das feudale System, welches sie aus der Normandie mitgebracht hatten, und auf dem ja in der That die mittelalterliche Gesellschaft beruhte, nicht nur an, sondern entwickelten es auch bis zu seinen äußersten Consequenzen. Aber — und darin liegt ihre unvergängliche historische Bedeutung — sie wußten es zu verhindern, daß das gesellschaftliche Institut des Feudalismus das Staats- Wesennach seinen Bedürfnissen ordnete d. h. den Staat auflöste; sie zwangen viel¬ mehr mit seltener Kraft und Konsequenz das System, sich dem Staate zu unter¬ werfen, und alle die Kraft, die es wie jede lebendige, dem jedesmaligen Cultur¬ zustande entsprechende Gruppirung der Gesellschaft in reicher Fülle aus sich ent¬ faltete, dem Staate dienstbar zu machen. Das Festhalten dieses Grundsatzes für alle folgenden Zeiten hat dem Staate die Kraft verliehen, seine Grundlagen, nicht unberührt, aber unerschüttert von dem Wechsel der socialen Ordnungen zu bewahren und weiter zu entwickeln, und gerade durch die vollste Anerkennung jeder Veränderung der allgemeinen Culturverhältnisse stets die Gesammtkraft der Nation seinem Gefüge zu leben¬ diger Bethätigung einzuordnen. Diese stetige Entwickelung, die man oft als Naturwüchsigkeit preisen hört, ist im Gegentheil das Resultat einer unausge¬ setzten ebenso kräftigen wie bewußten und planmäßigen Arbeit, die der Nation zur Gewohnheit geworden ist. Das ist der wunderbare politische Takt, das Resultat einer langen politischen Erziehung, jener feine Takt, der die kleinste Strömung in der Harmonie des Staatsganzen empfindet, und fast immer den rechten Moment erfaßt hat, um den vollen Einklang wieder herzustellen; der zu der Hoffnung berechtigt, es werde auch die in Folge der gewaltigen indu¬ striellen Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts eingetretene Krisis über¬ wunden werden und mit dem Triumphe des Staates über die auflösenden Tendenzen der Gesellschaft endigen. Der wesentlichste Anspruch, der an den mittelalterlichen Staat gestellt wer¬ den mußte, war die Wehrfähigkeit, woraus von selbst folgt, daß die Wehr¬ verfassung den Mittelpunkt der gesammten staatlichen Einrichtungen bildete. Die Kriegspflicht war aber unmittelbar abhängig von den Besijzverhältnissen, die durchaus nach den Grundsätzen des Lehnswesens geregelt waren. Wilhelm War durch die Eroberung Herr des gesammten Bodens geworden, von dem er natürlich nur einen Theil als unmittelbare Domäne zurückbehielt. Die Haupt- Masse vertheilte er an eine Unzahl geistlicher und weltlicher normannischer Herren, die für ihren Antheil ihm unmittelbar zu Lehnsdienst verpflichtet waren, twnvn- t«8 in egMo.) Diese unmittelbaren Vasallen belehnten ihrerseits wieder eine Anzahl Untervasallen, theils Normannen, theils auch Sachsen, die sich für den Theil ihres alten Besitzes, den man ihnen gelassen hatte, natürlich allen von der neuen Staatsordnung auferlegten Lasten unterwerfen mußten. Den zahl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/129>, abgerufen am 03.07.2024.