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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Alles Extreme auszuschließen, die Gegensätze in einer neutralen Mitte aus¬
zugleichen, dies war die Tendenz gewesen, in der sich beide Parteien entgegen¬
kamen, so daß wenigstens für die große Mehrzahl der Glaubensgenossen jene
Gegensätze ihre Bedeutung verloren hatten. Aber diese hatten in sich selbst zu
viele Berechtigung und Lebenskraft, als daß sie durch eine solche äußerliche Aus¬
gleichung ganz hätten aufgehoben werden können. Vielmehr erhoben sie sich
noch einmal zu einer großartigen Reaction, gegen welche die sich bildende Kirche
alle ihre Macht anzustrengen hatte: es war die Gnosis, eine Reaction des
Paulinismus, und der Montanismus, ein Reaction des Iudcncbristenthums.

Zwar theilt sich die Gnosis, die nichts anderes bedeutet als Religions-
philosophie, in eine Reihe sehr verschiedener Erscheinungen. Aber gemeinsam
ist ihr die philosophische Betrachtung des Christenthums gegenüber den anderen
Religionsformen, sie ist eine Ueberspannung der Denkwcrse, welche von der
Neuheit und Selbständigkeit des Christenthums, vom Gegensatz der christlichen
und jüdischen Offenbarung und von der übermenschlichen Natur Christi ausgeht
und insofern auf Paulus zurückzuführen ist. Die Gnosis riß das Christenthum
von seinen geschichtlichen Voraussetzungen los, verflüchtigte seinen Inhalt in
allgemeine philosophische Ideen und war so im Begriff, den specifisch-christlichen
Charakter zu verlieren.

Auf der andern Seite kehrte der Mvntanismus zu der ursprüngliche" Form
des christlichen Bewußtseins zurück wie wir ihn in der Urgemcinde gefunden
haben, erneuerte den Glauben an die Wiederkunft des Herrn und das tausend¬
jährige Reich, malte sich das Ende der Welt mit den lebendigsten Farben aus
und bereitete sich durch eine schwärmerische Askese auf die nah bevorstehende
Katastrophe vor.

Beide Richtungen konnte die in der Mitte stehende Mehrzahl nur als Ex¬
treme betrachten, welche die Geister verwirrten und den eingeleiteten Ausglci-
chungsprvceß durchkreuzten Schien die gnostische Speculation alles Positive
einzurcißcn, die Religion in Philosophie aufzulösen, so drohte die Reaction
des Montanismus, indem sie alles an das nahe Weltende knüpfte, den Boden,
zu untergraben, auf welchem das Christenthum festen Fuß in der Welt fassen
sollte. Diesen beiden Extremen gegenüber fühlte mau das Bedürfniß, das Ge¬
biet des Christlichen streng abzugrenzen sowohl durch eine feste Lehre als durch
eine feste Verfassung. Beides wurde erreicht durch die Ausbildung des Prin¬
cips der kirchlichen Tradition. Auf wen anders konnte man in dem Streit über
das, was christlich ist oder nicht, zurückgehen, als auf Christus selbst? Durch
wen anders aber hat Christus die Wahrheit mitgetheilt, als durch seine Apostel,
und wo anders konnte man das erfahre", was die Apostel gelehrt indem, als
von den Gemeinden, welche durch ihre Predigt oder ihre Briefe gestiftet wor¬
den sind?


Alles Extreme auszuschließen, die Gegensätze in einer neutralen Mitte aus¬
zugleichen, dies war die Tendenz gewesen, in der sich beide Parteien entgegen¬
kamen, so daß wenigstens für die große Mehrzahl der Glaubensgenossen jene
Gegensätze ihre Bedeutung verloren hatten. Aber diese hatten in sich selbst zu
viele Berechtigung und Lebenskraft, als daß sie durch eine solche äußerliche Aus¬
gleichung ganz hätten aufgehoben werden können. Vielmehr erhoben sie sich
noch einmal zu einer großartigen Reaction, gegen welche die sich bildende Kirche
alle ihre Macht anzustrengen hatte: es war die Gnosis, eine Reaction des
Paulinismus, und der Montanismus, ein Reaction des Iudcncbristenthums.

Zwar theilt sich die Gnosis, die nichts anderes bedeutet als Religions-
philosophie, in eine Reihe sehr verschiedener Erscheinungen. Aber gemeinsam
ist ihr die philosophische Betrachtung des Christenthums gegenüber den anderen
Religionsformen, sie ist eine Ueberspannung der Denkwcrse, welche von der
Neuheit und Selbständigkeit des Christenthums, vom Gegensatz der christlichen
und jüdischen Offenbarung und von der übermenschlichen Natur Christi ausgeht
und insofern auf Paulus zurückzuführen ist. Die Gnosis riß das Christenthum
von seinen geschichtlichen Voraussetzungen los, verflüchtigte seinen Inhalt in
allgemeine philosophische Ideen und war so im Begriff, den specifisch-christlichen
Charakter zu verlieren.

Auf der andern Seite kehrte der Mvntanismus zu der ursprüngliche« Form
des christlichen Bewußtseins zurück wie wir ihn in der Urgemcinde gefunden
haben, erneuerte den Glauben an die Wiederkunft des Herrn und das tausend¬
jährige Reich, malte sich das Ende der Welt mit den lebendigsten Farben aus
und bereitete sich durch eine schwärmerische Askese auf die nah bevorstehende
Katastrophe vor.

Beide Richtungen konnte die in der Mitte stehende Mehrzahl nur als Ex¬
treme betrachten, welche die Geister verwirrten und den eingeleiteten Ausglci-
chungsprvceß durchkreuzten Schien die gnostische Speculation alles Positive
einzurcißcn, die Religion in Philosophie aufzulösen, so drohte die Reaction
des Montanismus, indem sie alles an das nahe Weltende knüpfte, den Boden,
zu untergraben, auf welchem das Christenthum festen Fuß in der Welt fassen
sollte. Diesen beiden Extremen gegenüber fühlte mau das Bedürfniß, das Ge¬
biet des Christlichen streng abzugrenzen sowohl durch eine feste Lehre als durch
eine feste Verfassung. Beides wurde erreicht durch die Ausbildung des Prin¬
cips der kirchlichen Tradition. Auf wen anders konnte man in dem Streit über
das, was christlich ist oder nicht, zurückgehen, als auf Christus selbst? Durch
wen anders aber hat Christus die Wahrheit mitgetheilt, als durch seine Apostel,
und wo anders konnte man das erfahre», was die Apostel gelehrt indem, als
von den Gemeinden, welche durch ihre Predigt oder ihre Briefe gestiftet wor¬
den sind?


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[0106] Alles Extreme auszuschließen, die Gegensätze in einer neutralen Mitte aus¬ zugleichen, dies war die Tendenz gewesen, in der sich beide Parteien entgegen¬ kamen, so daß wenigstens für die große Mehrzahl der Glaubensgenossen jene Gegensätze ihre Bedeutung verloren hatten. Aber diese hatten in sich selbst zu viele Berechtigung und Lebenskraft, als daß sie durch eine solche äußerliche Aus¬ gleichung ganz hätten aufgehoben werden können. Vielmehr erhoben sie sich noch einmal zu einer großartigen Reaction, gegen welche die sich bildende Kirche alle ihre Macht anzustrengen hatte: es war die Gnosis, eine Reaction des Paulinismus, und der Montanismus, ein Reaction des Iudcncbristenthums. Zwar theilt sich die Gnosis, die nichts anderes bedeutet als Religions- philosophie, in eine Reihe sehr verschiedener Erscheinungen. Aber gemeinsam ist ihr die philosophische Betrachtung des Christenthums gegenüber den anderen Religionsformen, sie ist eine Ueberspannung der Denkwcrse, welche von der Neuheit und Selbständigkeit des Christenthums, vom Gegensatz der christlichen und jüdischen Offenbarung und von der übermenschlichen Natur Christi ausgeht und insofern auf Paulus zurückzuführen ist. Die Gnosis riß das Christenthum von seinen geschichtlichen Voraussetzungen los, verflüchtigte seinen Inhalt in allgemeine philosophische Ideen und war so im Begriff, den specifisch-christlichen Charakter zu verlieren. Auf der andern Seite kehrte der Mvntanismus zu der ursprüngliche« Form des christlichen Bewußtseins zurück wie wir ihn in der Urgemcinde gefunden haben, erneuerte den Glauben an die Wiederkunft des Herrn und das tausend¬ jährige Reich, malte sich das Ende der Welt mit den lebendigsten Farben aus und bereitete sich durch eine schwärmerische Askese auf die nah bevorstehende Katastrophe vor. Beide Richtungen konnte die in der Mitte stehende Mehrzahl nur als Ex¬ treme betrachten, welche die Geister verwirrten und den eingeleiteten Ausglci- chungsprvceß durchkreuzten Schien die gnostische Speculation alles Positive einzurcißcn, die Religion in Philosophie aufzulösen, so drohte die Reaction des Montanismus, indem sie alles an das nahe Weltende knüpfte, den Boden, zu untergraben, auf welchem das Christenthum festen Fuß in der Welt fassen sollte. Diesen beiden Extremen gegenüber fühlte mau das Bedürfniß, das Ge¬ biet des Christlichen streng abzugrenzen sowohl durch eine feste Lehre als durch eine feste Verfassung. Beides wurde erreicht durch die Ausbildung des Prin¬ cips der kirchlichen Tradition. Auf wen anders konnte man in dem Streit über das, was christlich ist oder nicht, zurückgehen, als auf Christus selbst? Durch wen anders aber hat Christus die Wahrheit mitgetheilt, als durch seine Apostel, und wo anders konnte man das erfahre», was die Apostel gelehrt indem, als von den Gemeinden, welche durch ihre Predigt oder ihre Briefe gestiftet wor¬ den sind?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/106>, abgerufen am 01.10.2024.